Sokops Rache
nichts wissen. Ich sollte erst einmal ein wenig üben mit dem Audi, hat er gemeint. Also ist er mit dem Zug nach Berlin gefahren. Er, der passionierte Autofahrer! Warte, der Mercedes muss hier auch noch irgendwo zu sehen sein. Als ich das nächste Mal im Sommer darauf zurück nach Wismar kam, da war er nämlich wieder da. Papa hatte einen Detektiv engagiert, und der hat ihn tatsächlich wieder aufgetrieben. Verrückte Geschichte! Wir hatten den Mercedes dann noch bis vor einigen Jahren. Irgendwie konnte sich Papa nicht von dem Ding trennen.«
»Was war das für ein Modell?« Henry Sokop hört seine eigene Stimme, die völlig fremd klingt.
»Hier, das ist er.« Sie tippt auf ein Foto.
Henry merkt im letzten Moment, dass er das Sektglas zu fest umklammert hält. Bevor es zerspringt, stellt er es schnell ab und greift grob, ohne auf ihren erstaunten Blick zu achten, nach dem Album. Ja, das ist er, der goldfarbene Mercedes 500, für den sein Vater sterben musste.
* * *
»Henry?«
Er schreckt auf, stößt sich den Kopf an der Decke über dem Hochbett, sinkt zurück auf das Kissen und spürt dem Schmerz seiner Schädeldecke nach. Er lauscht. Stille. Es ist hell draußen. Von der Küche aus fällt ein Streifen Licht in das fensterlose Schlafzimmer. Auf dem Hinterhof streiten sich lautstark die Spatzen. Es klopft an der Wohnungstür.
»Henry, bist du da?
Er schließt die Augen wieder. Er verflucht den Tag, an dem ihm der Anstaltssozialpädagoge das Angebot gemacht hat, als Interviewpartner für diese Wahnsinnige zu fungieren.
»Henry, ich muss dir etwas Wichtiges sagen. Lass mich rein. Es ist wirklich wichtig.« Wieder Klopfen. Wenn er ihr nicht öffnet, wird sie den ganzen Tag lang die Haustür observieren, er wird keinen Schritt aus dem Haus machen, sich nicht am Fenster zeigen können. Zwecklos. Er hebt die Beine über die Bettkante, müde, als wäre er ein Greis. Verzweiflung nagt an ihm. Menschen, die ihn nicht erkennen, Menschen, an die er sich nicht erinnert, Menschen, die ihn verfolgen, Menschen, die er verfolgt, ein Mensch, den er liebt und den er bald verlieren wird. Sein Leben ist zu einem Karussell der gescheiterten Begegnungen geworden.
Wenig später prasselt ihr Redestrom auf ihn nieder, sieht er, ohne etwas zu sehen, in ihre stumpfen Augen unter dem totgefärbten Haar, hört ihre farblose Stimme, begreift nicht, was sie von ihm will und begreift es doch so gut.
Er beherrscht seinen Fluchtreflex – am liebsten würde er sie hier, auf seinem billigen Plastikstuhl sitzen und plappern lassen. Hinaus, raus aus der Wohnung, der Stadt, diesem verkorksten Leben. Stattdessen kocht er Kaffee, mimt Interesse an ihren Rechercheergebnisse, fragt nach und legt, als er ihr den Becher in die Hand drückt, eine Hand auf ihre Schulter.
»Beweise?« Sie sieht zu ihm auf. »Wenn ich herausfinde, wann er die Behördenleute das nächste Mal in das Bordell einlädt, könntest du auch dort sein. Als Kunde, meine ich.« Sie wird rot. »Ich kann da ja schlecht hin.« Sie pustet in ihren Becher, wirkt beinahe kindlich. Eine kleine pausbäckige Unruhestifterin. Selten hat er sich einem anderen Menschen gegenüber so hilflos gefühlt. Selbst mit den brenzligen Situationen in der JVA, mit Erpressungsversuchen und Drohungen der anderen Gefangenen, ist er leichter fertig geworden, dank der ihm eigenen Mischung aus taktischer Überlegung, klugem Gegeneinanderausspielen der Mithäftlinge, undurchschaubarem Beharren und notfalls drastischer Brutalität. Doch der Verfolgung durch diese gleichermaßen heimtückische wie naive Person hat er nichts entgegenzusetzen.
Wäre er der, für den ihn alle halten, würde er sie zu einem Ausflug mit dem Auto einladen, ihr in einem stillen Waldstück die Sig Sauer an den Kopf halten und das Hirn aus dem Schädel blasen. Einfach so.
Am Abend lässt Henry Sokop sich im Schlauch methodisch volllaufen. Er weiß, dass er nun eigentlich die Hinrichtung vorzubereiten hätte. Aber der Gedanke an diese hartnäckige Irre lähmt ihn. Es kommt ihm vor, als hätte ihre Existenz eine bestimmte Bedeutung für ihn, die er entschlüsseln muss, um mit seinem Plan nicht zu scheitern. Von ihr geht, weit über das normale Maß, eine Gefährdung aus, die er in den Griff bekommen muss. Nur wie? Und dann nagt da noch ein grundsätzlicher Zweifel.
An seinem Platz in der hinteren Hälfte der Kneipe, möglichst weit von der Bühne entfernt, auf der vier Musiker ihre Versionen alter Rockklassiker zersägen, wird
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