Sokops Rache
links zum Markt. Egal wohin, nur fort. Noch lange durchstreift er die unbelebte Altstadt, benommen, ohne Ziel. Wismar kommt ihm vor wie ein massiger, gestrandeter Wal. Der mondhelle Himmel über der Stadt – das fahle Fischfleisch. Die Straßen – die gewaltigen Knochen, das Walskelett. Sein Gefängnis. Er hört nichts außer seinen eigenen Schritten, die von den Hauswänden, den toten Schaufenstern widerhallen, und dem Rauschen, das seine Gedanken füllt. Wismar, dieser zugleich moderne und museale Ort, wo alle Fäden seines Lebens zusammenlaufen. Wo es keine Extreme mehr gibt, keine Spannungen zwischen den Zeitaltern oder den Vertretern von politischen Systemen, die Stadt, in der es einen geheimen Plan zu geben scheint, der das Vielfältige als heilsbringendes Credo postuliert, aber in Wirklichkeit alles gleichzumachen strebt. Hier geht alles so weiter wie immer und ist doch ganz anders. Größerer Schrecken ist kaum vorstellbar.
* * *
»Ist er der Richtige?«
»Ach Papa!« Nicole Oldenburg lässt den Löffel, mit dem sie ihr Frühstücksei köpfen wollte, sinken und blickt ihren Vater über den im Wintergarten der Villa gedeckten Tisch hinweg tadelnd an.
»Nein, versteh bitte meine Sorge um dich. Wie ernst ist es dir mit diesem Henry Brandt?«
Nicole fühlt, wie die Röte ihre Wangen, ihren Hals erobert. Ihr Herz pocht, als hätte ihr Vater sie bei etwas Verbotenem ertappt. Sie versteht ihn ja, seine Besorgnis, weil sie mit 38 Jahren noch immer nicht in einer stabilen Beziehung lebt, versteht seinen Wunsch, sie möge einen treuen und zuverlässigen Partner finden und ihn vielleicht doch noch zum Großvater machen. Obwohl sie sich selbst gern als unabhängige, völlig in ihrer Karriere aufgehende Geschäftsfrau sieht, entspricht dies insgeheim ihren eigenen Lebensträumen.
»Ich mag ihn sehr. Nein, ich bin wirklich verliebt in ihn und meine zu spüren, dass er meine Gefühle ebenso stark erwidert. Für alles andere …«, sie wirft ihrem Vater einen warnenden Blick zu, »… ist es definitiv noch zu früh.«
Bernhard Oldenburg rührt in seinem Kaffee, legt den Löffel, so behutsam es mit seinen dicken Fingern geht, zurück auf die Untertasse und wischt sich mit der flachen Hand ein paar Mal über Schnauz- und Kinnbart. Eine Geste, die ihr zeigt, wie unsicher er ist. In der Diele schlägt die alte Standuhr, in der Nicole als Kind ihre kleinen Schätze versteckt hat, acht Mal.
»Was meinst du: Ist er ehrlich zu dir, Kätzchen?«
Beide denken in diesem Moment an den Rostocker Architekten, der Nicole zwei Jahre lang Versprechungen für eine gemeinsame Zukunft gemacht hat, ohne ihr von seiner Ehefrau und ihren drei gemeinsamen Kindern zu berichten, von denen er keineswegs die Absicht hatte, sich zu trennen. Nicole brauchte, nachdem sie ihn schließlich aus ihrem Leben geworfen hatte, ein volles Jahr, um emotional wieder auf die Beine zu kommen, wieder so etwas wie Freude an Dingen und – später erst – an anderen Menschen zu empfinden.
»Ich glaube schon, Paps. Es fällt mir schwer, das zu beurteilen. Henry ist sehr zurückhaltend, erzählt wenig von sich. Ich will ihn auch nicht unter Druck setzen. Er öffnet sich mir eben in seinem Tempo.« Sie überlegt. »Eigentlich finde ich das sogar anziehend an ihm. Dass er so etwas leicht Geheimnisvolles ausstrahlt. Ich weiß zum Beispiel noch immer nicht, wo er in den letzten Jahren gelebt hat.«
Nun, dass lässt sich herausfinden , denkt ihr Vater und schüttelt versonnen den Kopf.
»Erst einmal macht er einen guten Eindruck auf mich. Klug, ruhig, interessiert. Und nicht so ein intellektueller Quatschkopf wie dein Letzter.« Er schnaubt verächtlich bei dem Gedanken an den aus dem Westen stammenden Politikerschnösel, der ihn von Anfang an spüren ließ, dass er ihn für einen ungebildeten Emporkömmling hielt. »Dieser Henry lässt es nicht so heraushängen, dass er einem kopfmäßig über ist. Das gefällt mir. Und von seinem Beruf her würde er gut bei uns hereinpassen.«
»Papa, so weit sind wir noch lange nicht. Wir verstehen uns erst einmal nur sehr gut.« Ihr Zwerchfell flattert vor Lust bei der Erinnerung daran, wie stark gerade ihre Körper harmonieren. »Alles Weitere wird sich zeigen.« Sie überlegt eine Weile. »Und bitte misch dich nicht ein. Dazu bin ich wirklich zu alt.«
Später, sie sitzt in ihrem Büro, ohne etwas von den Konstruktionszeichnungen auf dem Computerbildschirm vor ihr wahrzunehmen, wird ihr klar, dass sie vor allem der gut,
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