Sokops Rache
Anlegesteg liegt wie ausgestorben da. Nur auf dem Kai wandern die unvermeidlichen, regenfest verpackten Touristen, die auch kalter Wind nicht schreckt. Niemand bemerkt das unrühmliche Ende des Törns und Henrys Sokops persönlichen Bankrott.
»Henry, du alter Pirat. Trink!«
Bernhard Oldenburg hebt seinen Whiskybecher. Im Raum herrschen mindestens 24 Grad. Henry ist schwindlig, er schwitzt und friert abwechselnd. Sie sitzen im sogenannten Salon, einem düsteren Raum mit bordeauxroter Samttapete, Kristalllüster und dunklen alten Möbeln. Auch hier gibt es natürlich einen Kamin, in dem Henry nach ihrer Ankunft ein Feuer entzündet hat. Oldenburg leidet unter Schüttelfrost, sitzt, die Beine unter einer Decke, in einem der beiden gewaltigen Ohrensessel und hat kategorisch abgelehnt, sich ins Bett zu begeben. Sie sind allein im Haus. Zu Henrys Erleichterung ist Nicole – das hatte er völlig vergessen – zu einem Reitturnier in Brandenburg unterwegs und wird erst morgen Nachmittag zurückkommen. Das verschafft ihm Zeit, um sich auf die Begegnung mit ihr vorzubereiten. Oder um rechtzeitig zu verschwinden. Ihm ist weder klar, was er selbst will, noch wie er auch nur die nächste halbe Stunde der Konversation mit Oldenburg überstehen soll.
»Zum Wohl, Bernhard.« Er legt den Kopf in den Nacken und lässt den Alkohol die Kehle hinabätzen. Sie haben wenig gesprochen bisher. Noch wartet er auf den Moment, in dem Oldenburg begreift, was passiert ist, sich seine Erschütterung in Zorn wandeln wird. Er weiß selbst nicht, warum er noch hier ist, dem alten Mann gegenübersitzt, mit einem ängstlichen Wühlen in der Magengrube darauf wartet, dass irgendetwas passiert. Ganz so, als wäre er nicht in der Lage, das Gespinst ihrer aus der gemeinsam erlebten Extremsituation resultierenden Zweisamkeit zu durchbrechen. Die Aversion gegen den Mörder ist noch da; irgendwo im Hintergrund nagt sie am Gerippe seiner Fluchtphantasien.
»Henry. Mein Gott, was habe ich nur für ein Glück gehabt.« Oldenburg wirkt verstört, die gewohnte Arroganz ist von ihm abgefallen. Kleinlaut sucht er nach Worten.
»Schon gut, Bernhard. Ich weiß, was du sagen willst. Ich kann mich nur tausendfach entschuldigen. Und weiß, dass das niemals ausreichen wird, meine Schuld zu tilgen. Es tut mir alles so furchtbar leid.«
»Blödsinn. Das meine ich doch nicht. Einen Fehler kann jeder machen. Geschenkt. Aber du … du hast das doch … Ich meine, du hast mich gerettet. Das ist das, was zählt.« Seine Augen schwimmen voller Tränen, er wischt sich über das Gesicht, zieht geräuschvoll den Naseninhalt in die Höhe. »Ich verdanke dir mein Leben, Junge.« Er beugt sich vor, legt Henry seine Hand auf das Knie. »Lass uns beide vergessen, wie ich ins Wasser gekommen bin. Wichtig ist, dass du mich da ’rausgezogen hast.«
Henry bewegt seine Beine, unfähig, seinen Ekel ganz zu verbergen. Doch es ist nicht nur der Ekel vor der Berührung des anderen. Es ist vor allem der Selbstekel, der ihn erstarren lässt. Was ist er nur für ein feiger Waschlappen. Er hat sich fünfzehn Jahre lang für einen kaltblütigen, konsequenten Rächer gehalten, willensstark und bedenkenlos von seiner Bestimmung vorangetrieben. Um dann, von einem Moment auf den anderen, alles aufzugeben: seinen Racheplan, seine Selbstachtung, sein Leben. Er ist so erbärmlich.
Oldenburg schenkt ihre Gläser voll und Henry will plötzlich nichts, als im Alkoholglimmer vergessen, sich betrinken, bis das alles keinerlei Bedeutung mehr hat – doch er weiß, dass dies niemals funktionieren wird. Sie sitzen beieinander, als wären sie Vertraute, starren in die Flammen, leeren ihre Gläser. Ab und zu gibt Oldenburg etwas von sich – eine knappe Bemerkung oder auch nur ein Grunzen, doch die meiste Zeit hängen beide stumm ihren Gedanken nach, sind sich der Anwesenheit des anderen nur undeutlich bewusst. Minuten werden zu Stunden; ihre Erschöpfung geht in Trunkenheit über; als die Dunkelheit vor den Fenstern steht, sind beide nicht mehr in der Lage, gerade zu stehen. Sie stolpern in die Küche der Villa, plündern den Kühlschrank, benehmen sich wie übermütige, ausgehungerte Kinder: essen mit den Händen, stopfen sich alles durcheinander in den Mund und spritzen sich Ketchup direkt aus der Flasche hinterher.
Oldenburg rülpst lautstark. Sein Blick ist glasig, in seinem Bart hängt etwas von dem Krautsalat, den er in sich hineingeschaufelt hat – doch er scheint ein wenig nüchterner geworden
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