Sokops Rache
zu sein. »Gehen wir in mein Arbeitszimmer.«
Da ist er wieder, dieser herrische Tonfall. Oldenburg sinkt auf den wuchtigen Ledersessel hinter seinem Schreibtisch. Henry nimmt auf dem Besucherstuhl Platz, bekämpft seinen Rausch mit einer Flasche Wasser, die er aus der Küche mitgenommen hat.
»Ich will gar nicht wissen, woher du kommst, was du gemacht hast, bevor du nach Wismar gekommen bist. Was zählt ist das, was du heute getan hast.« Oldenburg wischt sich über sein gerötetes, fiebrig glänzendes Gesicht. »Nicht das Missgeschick, sondern, dass du mich gerettet hast.« Er hält inne, überlegt, schüttelt den Kopf, als begreife er erst jetzt. »Ohne dich wäre ich jetzt tot.«
Henry fühlt sich wie in einer Endlosschleife. Oldenburg beginnt, zu erzählen. Wahllos berichtet er von seiner gescheiterten Ehe, den Anfängen seiner Firma, dem Wachsen des Unternehmens. Dann springt er in der Zeit zurück, schwärmt davon, was seine Tochter schon als kleines Mädchen alles konnte, wie verständig sie schon immer war, sein Einundalles, sein Kätzchen.
Henry lauscht wie erstarrt dem Strom der Worte, meint auseinanderzufallen, wenn er sich nur einen Moment lang nicht auf sein Gegenüber, sondern auf sich selbst konzentriert. Er ist ein Niemand, ohne Sinn und Ziel. Nur seine Reaktionen auf den anderen, sein Nicken, das einsilbige Zustimmen, halten die Reste seiner Persönlichkeit zusammen. Wie sonst könnte er mit dem Mörder seines Vaters trinken? Wo ist sein Rachebedürfnis hin? Er will doch noch immer, dass die Tat von damals gesühnt wird, oder etwa nicht? Er kennt keine Antwort, weiß nicht, was ihn noch antreibt, weshalb er hier sitzt, wie es weitergehen wird. Zu weit hat er sich von dem Bild entfernt, das er bis vor wenigen Stunden von sich selbst hatte. Er blickt dem Mörder in die Augen und fühlt … nichts.
» Ich schulde dir etwas.«
Henry hebt abwehrend die Hand.
»Keinen Widerspruch. Du hast mir das Leben gerettet, basta. Und ich werde mich dafür erkenntlich zeigen.«
Henry nippt an seinem Wasser, wartet ergeben auf das, was Oldenburg ihm anbieten wird.
»Ich bin froh, dass Nicole nicht hier ist. Sie meint immer, ich mische mich zu stark in ihr Leben ein. Natürlich ist sie eine erwachsene Frau. Andererseits – wozu hat man denn Familie, wenn nicht dafür, dass man füreinander sorgt.« Er räuspert sich. »Ich möchte dir ein Angebot machen, Henry. Nicole hat Andeutungen gemacht, dass du ein wenig beengt wohnst. Also: Was hältst du davon, mit uns hier im Haus zu leben? Es gibt oben eine separate Wohnung, nichts Großartiges, aber sicher angenehmer als das, was du da am Spiegelberg hast. Natürlich brauchst du keine Miete zu zahlen. Ich gehe davon aus, dass du vielleicht bald ganz zur Familie gehören wirst. Na, was meinst du dazu?« Als Henry schweigt, verzieht er das Gesicht. »Keine Bange, ich bin nüchtern genug, um zu wissen, was ich tue.«
Henry dreht die Wasserflasche in seinen Händen, sucht nach Worten.
»Glaub mir, Nicole wird nichts dagegen haben. Sie hat sogar unlängst selbst die Idee gehabt und ich habe ihr geraten, ein wenig abzuwarten, wie sich das zwischen euch entwickelt. Und ich will nicht vorgreifen, aber möglicherweise können wir dich auch in der Firma gebrauchen. Da lass uns später in Ruhe drüber reden.« Er strahlt Henry an. »Na, was sagst du?«
Ein trockenes Lachen quält sich, ohne dass er etwas dagegen tun kann, Henrys Kehle hinauf. Für ihn klingt das alles wie ein zweites Lebenslänglich, mit umgekehrten Vorzeichen. Unmöglich auszuhalten. Und doch fällt ihm nichts anderes ein, als zuzustimmen.
Die beiden Männer – einer grobschlächtig und laut, der andere hager und still – sitzen bis weit nach Mitternacht beisammen, leeren eine weitere Flasche Whisky miteinander. Jeder hat seinen ureigenen Grund, sich besinnungslos zu trinken.
»Mir ist das völlig gleichgültig – ob deine Geschichte stimmt.« Henry schaut erschrocken auf.
»Die Sache mit deinem Auslandsaufenthalt, meine ich. Es gibt eine Menge Gründe, eine Weile gar nichts zu tun. Und du hast ja angedeutet, dass damals etwas Gravierendes in deinem Leben passiert war, das dich wahrscheinlich aus der Bahn geworfen hat.« Oldenburgs Aussprache ist verwaschen, doch sein Hirn funktioniert noch, das merkt Henry deutlich. Der Alte ist das Trinken gewöhnt.
»Ich habe nämlich ein paar Nachforschungen angestellt, mein Junge. Man will ja wissen, mit wem die eigene Tochter es zu tun hat.«
Henrys Magen
Weitere Kostenlose Bücher