Sokops Rache
gegenüber, der aus blankem Eigennutz sein Leben zerstört hat, nachdem er ihm den Vater genommen hat. Den Umstand, dass Oldenburg gerade über seine tatsächliche Schuld kein Wort verliert, dass er einen anderen – ihn – zum Sündenbock gemacht hat, registriert Henry Sokop beinahe emotionslos.
Warum nur lässt ihn das alles so entsetzlich kalt? Was ist Schuld, was Rache? Das alles ist so lächerlich, so grotesk; diese sinnentleerten Kategorien menschlicher Moralvorstellungen, die nicht das Geringste mit ihm selbst zu tun haben. Ihn würgt der Selbstekel. Bald darauf täuscht er vor, noch betrunkener zu sein, als er es ist, und lässt sich vom Hausherrn an die Tür bringen. Die Nacht ist grabeskalt, er zittert in seiner dünnen Jacke, hält die Tasche mit der nun nutzloser als je zuvor gewordenen Waffe in der Hand. Oldenburg sieht ihn erwartungsvoll an, hat ihn anscheinend etwas gefragt. Er antwortet aufs Geratewohl.
»Gib mir ein paar Tage Bedenkzeit, Bernhard. Ich muss mir das alles durch den Kopf gehen lassen.«
Henry läuft die Doktor-Leber-Straße entlang. Betrunken und seltsam nüchtern zugleich. Es ist eine sehr stille Nacht, Mensch und Natur schweigen. Kein Wind weht, niemand ist auf einer späten Kneipentour unterwegs, kein Auto brummt über den schwarz glänzenden Asphalt. Die pseudo-historischen Straßenlaternen an den Fassaden tauchen ihre Umgebung in unnatürlich orangefarbenes Licht. Die schmiedeiserne Wasserkunst auf dem Markt ist ungewöhnlich illuminiert, innen rotiert ein Scheinwerfer. Irgendein Kunstprojekt. Es ist, als hätte jemand einen stumpfgrauen Samtvorhang über den großen Platz geworfen. Nichts Tröstliches ist an dieser Stille. Wenn er doch nur mit jemandem reden, sich austauschen könnte. Über alles, darüber, was er nun tun, wie er sich verhalten soll. Doch es gibt niemandem, der wissen darf, was in den letzten vierundzwanzig Stunden wirklich passiert ist. Er klappt den Kragen seiner Jacke hoch, als ihm eine Bö aus der Altwismarstraße ihren kalten Hauch entgegenbläst. Die Journalistin und Weller, die einzigen, die seine Geschichte kennen, kommen nicht infrage. Sie schon deshalb nicht, weil sie ein elendes Mördergroupie ist, ihn aussaugen will, um ihr eigenes Leben aufzuwerten, sich lebendig zu fühlen. Hätte er das nur früher bemerkt, die Alarmzeichen schon in Waldeck erkannt. Die tiefen Blicke aus ihren Kuhaugen, die ganze Gefühlsduseligkeit, kleine Geschenke, Weihnachtskärtchen. Für ihn ist sie damals nur eine irgendwie weltfremde Journalistin mit einem naiven Faible für Kriminelle gewesen. Unschädlich, vielleicht sogar nützlich. Wie sehr er sich getäuscht hat!
Und Weller? Dieser eigenartig gelassene Menschenfreund ruft in ihm eine Sehnsucht hervor, wie er sie nie gekannt hat. Sehnsucht nach einem großen Bruder, einem Gefährten, einem Freund, mit dem er alles teilen kann. Freude, Schmerz, Trauer, Angst. Er weiß, dass Weller so jemand für ihn sein könnte – wäre da nicht der Anlass ihres Kennenlernens.
Bewährungshelfern traut man nicht, my darling , summt er auf die Melodie von Liebeskummer … Meine Güte, ist er besoffen! Das ist wohl Galgenhumor. Seine Schritte hallen in der verlassenen ABC-Straße. Eine Katze miaut, schnürt zielstrebig in eine dunkle Einfahrt und ist verschwunden. Dann ist wieder alles still. Fast fürchtet er, wieder dem GEIST in die Arme zu laufen, den er da vorne, kurz vor der Schweinsbrücke, das erste Mal gesehen hat. Zu all seiner schluchtentiefen Verzweiflung würde der jetzt passen, dieser Alp, unvermutet aufgetaucht, scheinbar unmöglich abzuschütteln.
* * *
»So, du hast also etwas Besseres gefunden als meine kleine Ellen .« Weller verschränkt die Arme hinter dem Kopf und lehnt sich so weit zurück, dass Henry fürchtet, der andere kippe mit dem Stuhl hintenüber.
»Wie meinst du das?« Er hat die furchtbare Nacht von Oldenburgs Geständnis irgendwie überstanden, den darauffolgenden Montag mit einer Flasche Hochprozentigem im Bett verbracht, eine Zigarette nach anderen geraucht, Nicoles Anrufe, das Klingeln an der Wohnungstür ignoriert und das erste Mal seit seiner Entlassung den Fernseher vermisst. Am heutigen Dienstag ist er zwar einigermaßen nüchtern und frisch rasiert zum Termin hier erschienen, doch das Denken fällt ihm schwer. Worauf will Weller hinaus? Er versucht, sich zu konzentrieren. Dabei hat er die sechzig Minuten bei seinem Bewährungshelfer herbeigesehnt: als Rettungsinsel, Ruhepol
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