Sokops Rache
mitsamt dem Baum schon mit hoher Geschwindigkeit von einer Schiffseite auf die andere. Der Baum trifft Oldenburg mit Wucht ins Kreuz und stößt ihn über Bord. Das alles dauert keine drei Sekunden.
Das Rad in den Händen, dreht Henry sich um und starrt hinab auf das Kielwasser. Er ringt nach Luft, als hätte er einen Sprint hinter sich. Mehrere Meter hinter der Niobe verschwindet der Kopf seines Feindes zwischen den Wellenkämmen. Die Fock knattert noch immer haltlos im Wind. Jetzt taucht die weiße Skippermütze, die unverständlicherweise an Oldenburgs Kopf zu kleben scheint, wieder auf. Aus dessen weit aufgerissenem Mund dringt ein Schrei, rau und unartikuliert. Henry blickt sich um. Nichts, nur der winzige dunkle Fleck des Frachters und, weiter in Richtung Lübecker Bucht, ein kleiner heller Fleck, der von links nach rechts kriecht, ein Motorboot, das in Richtung Wismar unterwegs ist.
Eigentlich müsste er von einem Schwall der Erleichterung überwältigt sein. Doch der Triumph bleibt aus; sein Kopf ist leer. Alles, was er wahrnimmt, ist seine eigene Erschütterung. Seine Gedanken beginnen zu arbeiten. Innerhalb der letzten Sekunden hat er geschafft, worauf er jahrelang hingearbeitet hat. Es ist zu Ende. Das einzige Ziel, das er in seinem Leben noch gehabt, das er mit erbitterter Ausschließlichkeit verfolgt hat, ist erreicht. Seine Bestimmung hat sich in Luft aufgelöst. Die furchtbare Wucht der Erkenntnis, dass nun alles, wirklich alles vorbei ist, lähmt ihn. Und noch etwas ist da im Hintergrund, zerrt an ihm, will sich in sein Bewusstsein drängen. Er beobachtet Oldenburgs auf den Wellen tanzenden, beinahe unmerklich kleiner werdenden Kopf, über dem wieder und wieder das Wasser zusammenschlägt. Etwas, das stärker ist, als der ganze gelbe Hass, den er in den letzten fünfzehn Jahren gehegt und genährt hat, drängt an die Oberfläche von Henrys Bewusstsein. Er starrt auf den Ertrinkenden, sieht dessen Tochter vor sich und sich selbst, wie er sie tröstend in den Armen hält, und weiß plötzlich mit völliger, traumwandlerischer Sicherheit, dass er es nicht schafft. Die unumstößliche Wahrheit brennt wie eine Leuchtschrift vor seinem inneren Auge, ein Satz, der all das beschreibt, was ist: Du kannst das nicht. Er glaubt, in tiefes dunkles Blau gezogen zu werden. Die Rache verlangt von ihm, etwas zu tun, das er nicht verantworten kann. So abgebrüht und kaltblütig, wie er es sich so lange eingeredet hat, ist er nicht. Selbstverleugnung ist nicht das Problem. Er hat sein Selbst fünfzehn Jahre lang verleugnet, um zu überleben. Doch hat er nicht damit gerechnet, dass ihn Skrupel belasten könnten. Skrupel, diesen Menschen dort im Wasser um sein Leben zu bringen. Skrupel, dessen Tochter danach schamlos ins Gesicht zu lügen. Er hat den Boden unter den Füßen verloren, trudelt im Strom seiner sich überschlagenden Gedanken dahin. Nur eins erkennt er in diesem Moment: Er ist kein Mörder und wird es nie sein.
»Bernhard, halt durch! Ich komme zurück!« Seine eigene Stimme schrillt fremd in seinen Ohren.
Der wie ein Ball auf den Wellen tanzende Kopf, auf dem noch immer die Mütze klebt, ruft mit erstaunlicher Kraft: »Backbord, backbord, du musst wenden.«
Henry hält den Kurs, seine Hände umklammern das Steuerruder. Wenn er die Niobe so laufen lässt, müsste sie eine einigermaßen perfekte Wende hinlegen, ohne dass er etwas tun muss. Die flatternde Fock ignoriert er, überlegt stattdessen, wo die Rettungswesten sind. Hoffentlich hält Oldenburg durch, betrunken wie er ist. Und tatsächlich: Die Niobe gleitet in einer weiten Kurve zum Unglücksort zurück. Henry schwitzt, überlegt fieberhaft, wie er die Yacht zum Stoppen bringen kann, um den Verunglückten an Bord zu holen. Denn das ist Oldenburg: durch einen Steuerfehler über Bord gefallen. An dieser Version wird er festhalten und Oldenburg wird nichts anderes behaupten können. Letztlich lässt er, unsicher, ob dies den gewünschten Effekt haben wird, das Steuer los und die Niobe stellt sich in den Wind, wird langsamer und langsamer. Es kommt ihm ewig vor, bis er ungefähr dort anlangt, wo Oldenburg mit hochrotem Gesicht, nach Luft schnappend und prustend, versucht, an der Oberfläche zu bleiben, immer wieder Wasser schluckt, untergeht, nach bangen Sekunden wieder auftaucht.
In rasendem Tempo klappt Henry Deckel um Deckel auf dem Achterdeck hoch, bis er in einem Kasten das Gesuchte findet. Die orangefarbene Weste klatscht
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