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Sokops Rache

Sokops Rache

Titel: Sokops Rache Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Birgit Lohmeyer
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neben Oldenburg auf das Wasser. Bevor der sie greifen kann, sinkt er, zieht einen blasigen Strudel hinter sich her. Henry beißt sich auf die Lippen.  Komm schon, komm schon. Komm wieder hoch.  Er umklammert die Reling mit kältesteifen Fingern. Nach zäh fließenden Sekunden taucht der andere wieder auf. Die Schwimmweste treibt bereits mehrere Armlängen von ihm entfernt. Ihm steigt das Wasser erneut über die Augen, er spuckt, keucht. Die nächste Welle schlägt über seinem Kopf zusammen, mit verhängnisvoller, tödlicher Langsamkeit. Henry greift sich eine zweite Weste, wirft sie dem Ertrinkenden zu. Endlich taucht der wieder auf, erreicht die Weste und hält sich an ihr fest. Erleichterung flutet durch Henrys Körper. Doch nun muss er Oldenburg noch an Bord holen. Der schreit jetzt um Hilfe, bekommt den Mund voll Meerwasser.
    »Halt aus, Bernhard. Ich zieh dich hoch.« Seine Gedanken springen hin und her. Es würde nichts nützen, selbst hineinzuspringen. Dann muss er nicht nur Oldenburg, sondern auch sich selbst die Bordwand hinaufbefördern. Trotzdem schlüpft er in eine der Westen, denkt kurz daran, dass Weller, im Gegensatz zu Oldenburg, auf dem offenen Wasser das permanente Tragen dieses Schutzes verlangt. In einem der Kästen hat er zusammengelegte Leinen und Taue gesehen. Er reißt eine Leine, die ihm lang genug erscheint, heraus und läuft zurück zur hinteren Backbordreling. Die  Niobe  steht auf der Stelle, schaukelt sacht in der Dünung. Oldenburg starrt ihn an, den Blick voll ängstlicher Hoffnung. Henry wirft die Leine über Bord, versucht, den Treibenden zu treffen, verfehlt ihn um Längen. Er holt die Leine wieder ein, zwingt sich zur Konzentration. Ein weiterer Wurf und Oldenburg erreicht das Ende.
    »Halt dich fest, Bernhard!«
    Henry zerrt und zieht, die dünne Leine gräbt sich in die Haut seiner Handflächen. Oldenburg treibt nun direkt unter ihm, umklammert mit einem Arm die Rettungsweste, mit der anderen Hand das Leinenende, doch gelingt es nicht, den schweren Körper, der an der Bordwand zu kleben scheint, nach oben zu hieven. Außer Atem befiehlt Henry dem anderen, die Weste überzuziehen und dann mit beiden Händen die Leine festzuhalten. Sein eigenes Ende schlingt er um die Edelstahlreling. Dann versucht er zu Atem zu kommen, konzentriert sich und packt noch einmal zu. Mit ungeheurer Anstrengung – woher nimmt er bloß die Kraft? – zieht er Oldenburg so weit nach oben, dass dieser selbst die Reling packen und sich weiter hocharbeiten kann. Henry bekommt ihn am Oberkörper zu fassen, zerrt an der Weste, am Hemdkragen, an den Armen, an allem, was er erreicht. Es vergehen qualvolle Minuten, doch gemeinsam schaffen sie es. Oldenburg lehnt tropfnass an der Bordwand, keucht, hustet, versucht zu sprechen, wird wieder vom Husten geschüttelt.
    Das Deck dehnt sich und schwankt unter Henrys Füßen. In ihm ist nichts als Erleichterung, ungläubige Erleichterung, bis er das Brennen in seinen Handflächen spürt, den stechenden Schmerz in der Brust bei jedem Atemzug. Er sinkt auf eine Bank, ruht sich aus, zwei, drei, vielleicht auch zehn Minuten. Er denkt an nichts, nur daran, dass er Kraft sammeln muss, genügend Kraft, um die Rückfahrt zu überstehen. Allmählich verlangsamt sich sein Herzschlag; er gewinnt seinen kühlen Kopf zurück, beginnt, methodisch zu überlegen. Die Unfallversion ist nicht widerlegbar. Er sieht zu dem auf den Decksplanken zusammengesunkenen, halbtot wirkenden Unternehmer hinüber. Gleich wird er ihm eine Decke bringen, etwas Heißes zu trinken. Gleich, wenn er selbst sich wieder rühren kann. Ein Hustenanfall schüttelt ihn und Tränen trüben seinen Blick. Er ist der Retter dieses Mannes, auch wenn der, wieder zu Kräften gekommen, erst einmal fuchsteufelswild auf ihn und sein Unvermögen als Segler sein wird. Später wird Henry sich als Lebensretter feiern lassen, möglicherweise springt für ihn sogar irgendetwas dabei heraus. Und dann … Dann wird er sich verabschieden von diesem Kerl, von seiner Tochter und von Wismar, dieser Stadt, die ihm zu klein geworden sein wird. Ihm graut davor, Nicole nachher Rede und Antwort stehen zu müssen. Alles in ihm schreit nach Flucht.
    Als sie im Hafen einlaufen – Oldenburg, halbwegs wieder hergestellt, in einem trockenen Jogginganzug und in eine Decke gehüllt, und Henry, starr und vollkommen verfroren, am Ruder der  Niobe  – ist es bereits Nachmittag. Der graue Himmel hängt tief über der Stadtsilhouette, der

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