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Sokops Rache

Sokops Rache

Titel: Sokops Rache Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Birgit Lohmeyer
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    Stille.
    Nur der Regen auf dem Autodach. Er tippt auf den kleinen schwarzen Knopf, lässt das Radio die Stille fressen.
    Kabul/Afghanistan: Bei der Explosion eines Sprengsatzes sind 21 Menschen ums Leben gekommen; sechs weitere wurden verletzt. Die Bombe war …  Er wechselt den Sender. Popmusik.
    Ein niedriger zerrissener Himmel zieht über die Wismarbucht hinweg. Die Kirchtürme der Stadt stoßen an die graue Wolkendecke. Er parkt auf dem Gelände des Yachtclubs in Wendorf, starrt eine Weile einfach nur auf das Wasser, die Schiffe und die hellen Rauchfahnen aus den Schloten der Holzindustrie am Haffeld. Nachdem er Wellers Büro verlassen hat, ist er lange planlos durch die Gegend gefahren, mit dem einzigen Ziel, endlich Klarheit zu gewinnen über seine Situation. Wenn er nicht schon seit mehr als fünfzehn Jahren tot ist, nun ist er es. Da hilft kein Sozialpädagogengefasel. Sympathie: verschenkt. Liebe: verraten. Lebensziel: verfehlt. Er wird diese Geisterstadt verlassen, wohin: egal.
    Hier ist kein Platz mehr für ihn, seine Enttäuschung, den Selbstekel und die Trauer. Sein Zorn auf sich selbst, seine Schwäche, ist nicht groß genug, um ganz Schluss zu machen. Die Pistole liegt kühl und schwer in seiner Hand. Er wird sie nicht benutzen. Alles, sein ganzes Leben, gleitet unter ihm hinweg, lässt ihn straucheln, fallen, hinab ins Bodenlose. Nichts bedeutet ihm mehr etwas; eine universelle Sinnlosigkeit hat ihn erfasst. Vielleicht wird es besser, wenn er Wismar erst verlassen hat. Er legt die Waffe zurück ins Handschuhfach und startet den Motor. Kapitulation, alles was er tut. Ihm fehlt die Kraft, weiterzumachen. Er fährt in den Spiegelberg, beginnt, seine wenigen Sachen zu packen. Obwohl er auch alles einfach hier lassen könnte, so wenig verbindet ihn mit den nach seiner Entlassung angeschafften Dingen. Das Telefon, das er noch immer so nennt, obwohl alle nur noch von  Handys  sprechen, zirpt.  Nicole , zeigt das Display. Sie hat seit dem Wochenanfang bestimmt zwanzig Mal versucht, ihn zu erreichen. Er weiß nicht, was er ihr sagen soll und kommt sich schäbig vor, feige. Er wirft seinen Waschbeutel in die Reisetasche, in der schon die in ein Unterhemd gewickelte Pistole und seine Schuhe liegen. Vielleicht sollte er das Telefon einfach hier in der Wohnung lassen. Er nimmt seine Handtücher aus dem Regal über der Badewanne, geht zurück ins Zimmer. Das Zirpen hört auf. Der Reißverschluss der Tasche klemmt; er braucht seine ganze Konzentration, um ruhig zu bleiben und den Stoff aus den Metallzähnen zu befreien. Als er es geschafft hat, blickt er sich schwer atmend in dem Zimmer um, das für ihn einige Monate lang so etwas Ähnliches wie ein Zuhause war. Sein Blick fällt auf die Aktenordner mit den Gerichtsunterlagen. Die wird er nicht mitnehmen. In der Küche kippt er den Karton, in dem er Altpapier sammelt, auf den Boden aus. Er nimmt die Ordner und legt sie hinein. Auch wenn es ihm eine Spur zu melodramatisch vorkommt, wie etwas, das eher einem Pubertierenden zu Gesicht stünde, nicht einem erwachsenen Mann, nimmt er sich vor, sie zu verbrennen. Er wird diese Dokumente des Scheiterns, diese Erinnerungen an seine früheren Niederlagen vernichten, sich auf diese Weise symbolisch von seinen früheren Leben trennen.
    Denn auch sein drittes Leben ist nun vorbei.
    * * *
    Am Zierower Strand wendet er sich nach rechts, stapft, mit dem schweren Karton beladen, durch den Sand auf die Steilküste zu. Der Regen hat vor einiger Zeit aufgehört. Die Luft ist schwer, wie vor einem Gewitter. Es sind nur wenige Badegäste und Spaziergänger hier. Sein kleines Feuer wird kaum Aufsehen erregen. Er lässt den Campingplatz hinter sich und findet ein paar hundert Meter weiter Schutz in einer Einbuchtung der Steilküste. Nun ist er nur vom Meer aus erkennbar oder von oben, vom Rand der über ihm aufragenden Lehmwand. Nach rechts und links schützen ihn knorrige Sanddornbüsche. Er setzt den Karton ab und dreht sich eine Zigarette, versucht, während er raucht, abzuschätzen, ob es hier einsam genug ist oder ob sich jemand aufregen, vielleicht sogar die Polizei verständigen wird. Er sucht herumliegendes Holz und baut mit dem Karton als Windschutz eine improvisierte Feuerstelle. Seine Finger zittern leicht, als er die ersten Seiten aus einem der Ordner löst, sich zwingt, sie ohne zu lesen zusammenzuknüllen. Wenig später kräuselt sich eine dünne Rauchfahne in die Luft, die Flammen fressen ein Blatt nach dem anderen.

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