Sokops Rache
pünktlich. Ich habe um sechs einen Termin mit dem Tierarzt abgemacht. Er soll sich Aviras Sprunggelenke noch einmal ansehen. Und vorher wollte ich noch ins Büro.« Sie steigt unter Deck, füllt die Thermoskanne mit Kaffee und legt Gebäck in die Silberschale. Noch immer ist sie völlig durcheinander, weiß nicht, wie sie Henrys Schweigen deuten soll. Hinterherlaufen wird sie ihm nicht; das hat sie nicht nötig. Aber sie wüsste zu gern, weshalb er in dieser Weise auf das Angebot, zu ihnen in die Villa zu ziehen, reagiert. Dass er es mit ihr nicht ernst meinen könnte, zieht sie keinen Moment lang in Erwägung. So, wie sie sich ihrer Gefühle für ihn völlig sicher ist, so zweifelt sie nicht im Geringsten an seiner Liebe zu ihr. Irgendetwas muss ihn aus dem Tritt gebracht haben. Vielleicht scheut er die Abhängigkeit, will lieber eigenständig bleiben. Aber so ohne Vorwarnung abzutauchen ist kindisch. Womöglich ist ihm etwas zugestoßen? Daran mag sie gar nicht denken, ist so froh, dass ihrem Vater nichts Ernsthaftes passiert ist.
Von oben hört sie, wie er jemanden mit polterndem Lachen begrüßt. Er ist ein alter Blödmann, aber sie hat ihn sehr lieb. Als sie mit dem Tablett nach oben kommt, ist sie überrascht, wie klein die Journalistin ist. Sie reicht ihrem Interviewpartner kaum bis zur Brust. Sie machen sich miteinander bekannt, Nicole schenkt Kaffee ein, ihr Vater bietet, trotz der frühen Nachmittagsstunde, Hochprozentiges an.
»Ach, ein Kleiner wird wohl nichts schaden«, erwidert ihr Gast. »Es spricht sich dann leichter.«
Nicole hat die Frau, die gerade ihren Whisky mit einem affektierten Kichern in ihre Tasse kippt, sofort erkannt. Das merkwürdige Verhalten dieser Journalistin in der Bar, beim ersten Rendezvous mit Henry, hat sie nicht vergessen. Henry hat von einer Reportage erzählt, für die sie ihn interviewt hat. Nicole folgt ihrem Instinkt, auf ihre erste Begegnung nicht zu sprechen zu kommen. Zwischen ihnen auf dem Tisch liegt das Aufnahmegerät und ihr Vater beantwortet, mit einer Mischung aus Schalkhaftigkeit und Altmännercharme, erste Fragen nach seinem Werdegang. Dann tönt unten in der Kabine Nicoles Handymelodie und sie springt die Stufen hinunter – voller Hoffnung, dass er es ist. Doch es ist nur ihre Sekretärin, die etwas zu einem aktuellen Vorhaben wissen will.
Als sie wieder an den Tisch auf dem Achterdeck tritt, schenkt ihr Vater gerade die zweite Runde Whisky ein. Sie hält es nicht für klug, jetzt zu trinken, hat bereits den ersten abgelehnt. Die orangehaarige Journalistin ist gehörig in Fahrt. Der Alkohol glänzt in ihren Augen. »Ach, können wir nicht ein wenig hinausfahren, Herr Oldenburg? Ich habe mir das so gedacht: Der wettergegerbte Kapitän, das Steuer fest in der Hand, schaut hinaus auf das offene Meer, im Hintergrund die Küstenlinie oder, noch besser, die Silhouette von Wismar.« Sie nestelt eine größere Digitalkamera aus ihrem ledernen Beutel. Nicole sieht demonstrativ auf ihre Uhr, aber ihr Vater ist begeistert, wischt mögliche Einwände beiseite.
»Du kommst schon rechtzeitig zu deinem Gaul, Nicole. Wir können doch unserem Gast das Erlebnis einer Fahrt auf der Niobe nicht vorenthalten.« Er wendet sich der Journalistin zu. »Sagen Sie selbst, waren Sie jemals auf einer so schönen Yacht?«
Peinlich berührt von dieser Protzerei fügt sich Nicole der fröhlich-alkoholisierten Übereinkunft, einen kurzen Törn in der Wismarbucht zu unternehmen.
* * *
Jede verfluchte Ampel ist heute rot. Henry schlägt mit der Handfläche auf das Lenkrad ein. Der Fahrer vor ihm ist auf die Bremse gestiegen, als das Signal gerade eben gelb geworden ist. Sie hätten es locker noch beide über die Kreuzung am Burgwallcenter geschafft. Schon damals, in seiner ersten Wismarer Zeit, hat ihn das trödelige Temperament vieler Mecklenburger Autofahrer zur Weißglut gebracht. Als würden sie noch immer Trabbi fahren und hinter jeder Straßenecke VoPos lauern.
Rentner, Studenten, junge Mütter überqueren die Straße. Auch sie scheinen keine Eile zu haben. Dann bekommt der Verkehr von rechts freie Fahrt. Henry schaltet in den ersten Gang, schätzt die Chance ab, mit einem schnellen Schlenker auf die linke Abbiegespur und über den Schiffbauerdamm Zeit zu sparen. Er entscheidet sich dagegen, folgt der Schnecke vor ihm die Lübsche Straße entlang. Er stöhnt auf, als die Druckknopfampel beim MTC auf gelb umspringt und er wieder halten muss, denn auch dieses Mal hat
Weitere Kostenlose Bücher