Sokops Rache
fortgehen.«
Weller schaut ihn erstaunt an. »Weshalb?«
»Es hat keinen Sinn. Es wird nicht funktionieren.«
»Du glaubst, sie würde die Wahrheit über dich nicht aushalten?«
Henry springt auf, fährt sich über die Haare. »Was soll ich ihr denn erzählen? Als Vatermörder verurteilt, fünfzehn Jahre im Knast gesessen, vorher Kleinkrimineller.« Der gerade versucht hat, ihren Vater umzubringen , setzt er im Geist dazu. »Glaubst du etwa, dass sie danach noch ein Wort mit mir reden wird? Das hat doch alles keinen Sinn.« Er dreht sich zum Fenster und sieht, ohne etwas wahrzunehmen, hinunter auf den Strom der Fahrzeuge, der sich drüben am Zeughaus vorbeischiebt. Unten auf den Parkstreifen rangiert ein Polo, das Modell, das auch das Mördergroupie fährt. Er fühlt sich als Spielball seines Schicksals. Ihm hängt seine Knastvergangenheit wie ein Mühlstein am Hals, seine falsche, beziehungsweise seine richtige Identität macht ihm die Fortsetzung der Beziehung mit Nicole unmöglich. Undenkbar, ihr, ihrem Vater jemals seinen wahren Namen zu nennen. Er seufzt, ohne es zu merken. All diese Überlegungen sind müßig. Es besteht keine Chance, Nicole nicht zu verlieren.
»Es hält mich hier nichts. Die Stadt kennt mich nicht mehr, ich habe keine Arbeit, kaum Geld. Und mit Nicole wird das nichts, kann es einfach nichts werden.«
* * *
Es ist zum Aus-der-Haut-fahren. Uwe Weller fixiert die hochgezogenen Schultern seines Klienten und fühlt sich plötzlich zurück in jene bangen Tage und Wochen versetzt, nachdem er seiner Ellen das erste Mal begegnet war. Auch er hat anfangs gezögert, ihr von sich zu erzählen – in der irrigen Annahme, dass sie, als Künstlerin, kein Interesse oder auch nur Verständnis für seinen Beruf, seine Leidenschaft für Gerechtigkeit, sein Faible anderen zu helfen, aufbringen würde. Nur zu gut kennt er das Phänomen, von anderen Menschen mit seiner Klientel in einen Topf geworfen zu werden, genauso wenig gesellschaftliches Ansehen zu genießen wie die verurteilten Straftäter. Dass Ellen ebenso wenig eine elitäre, abgehobene Kunstprimadonna ist, wie er unter einem Helfersyndrom leidet, hat sich erst erwiesen, als sie ihn bat, mit der elenden Geheimniskrämerei um sich selbst aufzuhören, wie sie es damals formulierte. Ich nehme dir diese verschlossene Macho-Nummer keine Sekunde länger ab , hatte sie ihn, über den Tisch im Brauhaus , an dem sie während ihres dritten Treffens gesessen hatten, angefaucht.
Henry hat Recht; wenn er sich seiner Nicole offenbart, hat ihre Beziehung kaum Chancen auf eine Zukunft. Auch wenn seine große Liebe wie ein Playmate aussieht, sie ist nicht dumm. Seine Bürokraft Frau Sänger hat ihn, ihrem Ruf als Zeitung auf zwei Beinen gerecht werdend, über die Oldenburgs ins Bild gesetzt. Er räuspert sich, richtet seine Worte an den Rücken seines Klienten, der noch immer am Fenster steht, als genösse er die Aussicht.
»Was hast du also vor? Glaubst du ernsthaft, wegzulaufen wäre eine Lösung? Vor dir selbst kannst du nicht fliehen; das sollte dir klar sein. Wohin du auch kommst, du wirst immer entscheiden müssen, wem du wie viel über deine Vergangenheit anvertrauen willst. Warum also nicht hier in Wismar damit anfangen?«
Henry strafft die Schultern, nimmt wieder Platz, rückt die Brille die Nase hinauf.
»So, wie du das sagst, klingt es so einfach. Ein wenig Mathematik, eine simple Kosten-Nutzen-Rechnung – und schon weiß ich, wie ich mich verhalten soll. Aber die Gleichung hat ein paar zu viele Unbekannte.«
Weller erinnert sich an Frau Sängers Bericht: »Den können sie mir übrigens schenken, den Bernhard Oldenburg. Der war zwei Klassen über mir und schon damals nicht ganz sauber, viel zu sehr von sich überzeugt, nur auf seinen eigenen Vorteil aus. Nee, der ist kein angenehmer Zeitgenosse.« Er übertönt seine eigene Hilflosigkeit mit einem recht müden Scherz. »Na, Algebra ist doch für dich als Betriebswirt keine Herausforderung. Was hast du zu verlieren, wenn du ihr von deiner Vergangenheit erzählst – wo du ohnehin bereit bist alles aufzugeben? Selbst wenn da nur ein Hauch einer Chance ist, dass sie dich trotzdem akzeptiert, warum probierst du es nicht? So gesehen, kannst du nur gewinnen.« Er merkt selbst, dass dieser Optimismus aufgesetzt wirkt. »Oder scheust du den Vorwurf des Schnorrertums? Meinst du, sie oder andere werden denken, du hättest dich vorsätzlich an sie herangemacht?«
Henry schüttelt unwillig den
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