Sokops Rache
wird, kehrt sie in der Bar am Kai ein, setzt sich an einen der drei langen Tische draußen und schaut über das Hafenbecken mit den Fischverkaufskuttern hinweg auf die gepflasterte Uferpromenade gegenüber. Es ist derselbe Tisch, an dem sie Henry ihre Liebe gestanden hat. Wie lange ist das nun her? Es erscheint ihr wie eine Begebenheit aus einem anderen, früheren Leben, ein Leben, das dennoch auf eine verschlungene, schicksalhafte Weise mit ihrem jetzigen verkettet ist. Werden sich die zersplitterten Fragmente dieser beiden Leben jemals zu einer Einheit zusammenfügen? Fast wünscht sie, Henry wäre noch immer inhaftiert, stünde ihr, und nur ihr, ungeteilt zur Verfügung.
Die Sonne will sich heute nicht zeigen, düstere Wolken hängen schwer über der Stadt, trotzdem zieht sie sich die große Sonnenbrille vor die Augen, bevor die Kellnerin sie nach ihren Wünschen fragt. Sie weiß, dass sie aufgedunsen aussieht. Nicht einmal die Haare hat sie sich gewaschen, nur schnell ihre grünsamtene Ballonmütze aufgesetzt. Sie bestellt Kaffee-Cognac und überprüft ihre Geräte. Ein paar Besucher-O-Töne, ein, zwei Statements von Mitwirkenden und ein paar folkloristische Fotos – möglichst von dunkelhäutigen Tänzern – den Rest wird sie in einer Nachtschicht zusammenkloppen, damit sich Wismar wieder als weltoffen und auf gar keinen Fall fremdenfeindlich feiern lassen kann. Wie es während des restlichen Jahres, wenn diese Alibiveranstaltung vorbei ist, hier auf den Straßen zugeht, wie viele Besucher der Stadt angepöbelt, bedroht oder verprügelt werden, weil sie nicht über die vermeintlich richtige Hautfarbe oder Muttersprache verfügen, das scheint vielen bestenfalls egal zu sein. Öffentlich macht solche Vorfälle hier niemand, denn das schadet dem Tourismus. Manchmal kotzt ihr Job Sonja an. Ihre Vorstellungen von Journalismus sind einmal ganz andere gewesen. Genau diese Missstände, diese gesellschaftlichen Morastlöcher hat sie helfen wollen auszutrocknen. Ihr Lebenslänglich -Projekt kommt ihr nun wie ein milder Abklatsch ihrer einstigen politischen Ambitionen vor. Und selbst dieses Projekt ruht schon seit mehreren Wochen, ja, wenn sie ehrlich ist, Monaten, so verstrickt hat sie sich in ihre und Henrys Geschichte. Das muss anders werden!
Nach einem weiteren Kaffee-Cognac fühlt sie sich weit genug hergestellt, um mit der Arbeit beginnen zu können. Als sie sich dem Festzelt nähert, schlagen ihr Blasmusikklänge entgegen. Auch das noch! Kann es nicht wenigstens Salsa sein oder afrikanisches Trommeln? Sie beschließt, zunächst entlang des Hafenbeckens Passanten zum Festival zu befragen. Trotz des ungemütlichen Wetters sind am Wasser die gewohnten Mengen Touristen unterwegs, interessieren sich für die Ausflugsschiffe und historischen Segler. Kaum einer ist wegen des Folklorefestivals hier. Die meisten Spaziergänger, die sie befragt, haben noch nicht einmal Notiz von ihm genommen. Auf der Rückseite des riesigen roten Backsteinsilos sind deutlich weniger Menschen unterwegs. Der Überseehafen liegt wie ausgestorben da, die großen Kräne stehen still, nur an einem der Stege des Seglerhafens legt soeben ein großes weißes Schiff an. Sonja verstaut Aufnahmegerät und Kamera in ihrer Umhängetasche und macht sich auf den Weg zurück zum Festzelt. Auf der Höhe des letzten Anlegestegs zieht etwas diffus Ungewöhnliches ihre Aufmerksamkeit auf sich. Sie bleibt stehen und schaut genauer zu der gerade hereingekommenen Yacht. Zwei Männer gehen von Bord, einer von ihnen hat kurzes graues Haar. Henry! Ihr Herz hüpft vor Aufregung. Der zweite, deutlich älter und mit ungesund rotem, bärtigem Gesicht, hat eine Decke um die Schultern gelegt und bewegt sich zögernd, als kämpfe er um sein Gleichgewicht. Henry reicht ihm seine Hand, die dieser mit einer unwirschen Geste zurückweist. Sonja weiß sofort, wer das ist: der Bauunternehmer Oldenburg. Sie zieht sich den Mützenschirm tiefer ins Gesicht und beobachtet im Schutz eines an der Kaikante vertäuten Polizeischiffes, wie Henry, mit der Miene eines geprügelten Hundes, den Älteren, kraftlos Schwankenden zum Parkplatz begleitet. Sie beißt sich auf die Lippe.
Später, während des Interviews mit der Leiterin einer hiesigen Volkstanzgruppe, die langatmig über die Dreharbeiten eines Kinofilms berichtet, bei denen ihre Gruppe unlängst mitgewirkt hat, begreift Sonja bestürzt, mit einer Art von hohlem Schmerz, dass Henry es nicht geschafft hat.
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