Sokops Rache
Der erste Ordner ist leer, wird ebenfalls verbrannt. Nichts soll zurückbleiben. Ein kleiner braun-weißer Hund kommt herangetrabt, schnüffelt einmal um Henry und sein Feuer herum, verschwindet wieder. Eine Minute darauf taucht eine ältere Frau am linken Rand von Henrys Gesichtsfeld auf, wandert ungerührt an der Wasserlinie entlang, nimmt scheinbar keine Notiz von ihm. Der Hund springt vor ihr hin und her, kläfft. Mechanisch lösen Henrys Hände die Schriftstücke aus dem nächsten Ordner, legen sie in die Flammen. Früher, in seine Zelle, hat er sich vorgestellt, was dort bei einem Brand mit ihm passieren würde. Tod durch Ersticken, der Körper bis zur Unkenntlichkeit verkohlt. Der vorletzte Ordner ist fast leer, da meldet sich sein Telefon. Anrufer unterdrückt. Wenn es Nicole ist, wird er auflegen.
»Ja.«
»Henry?«
»Ja.«
»Ich bin’s, Sonja.«
»Sonja.«
»Pass auf, Henry, ich weiß, was am Sonntag passiert ist. Besser: was nicht passiert ist.«
Er schweigt, nimmt mit der freien Hand die nächsten Blätter mit amtlichen Briefköpfen und füttert das Feuer.
»Henry? Ich weiß nicht, was du jetzt vorhast, aber gib mir eine Chance. Du willst es doch noch immer, oder?«
Er hört etwas Hartes an ihr Telefon stoßen, gefolgt von Trinkgeräuschen.
» Ich löse unser Problem. Vertrau mir.« Eine Autotür fällt ins Schloss, Schritte, der Schrei einer Möwe. »Henry ...«
Er sollte auflegen, sich um das Feuer kümmern. Eine Zigarette rauchen. Irgendetwas. »Ja?«
»Ich liebe dich. Ich werde dir helfen. Du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Ich schaffe das schon, habe mir alles genau überlegt. Und dann sind wir frei. Wünsch mir Glück, Liebster. Nein, besser Mast- und Schotbruch. Oder beides.« Ihr Lachen klingt hysterisch.
Das Gespräch ist unterbrochen. Henry fragt sich, was ihn diese Frau, ihre wahnhafte Beharrlichkeit, mit der sie ihn bedrängt, noch angehen. Er ist so gut wie fort. Das Feuer droht zu verlöschen. Der Ordner ist leer und er schlägt den letzten auf, öffnet den Mechanismus. Das Briefpapier seines Anwalts. Während er hastig die Seiten auf die verglimmenden Blätter im Feuer schichtet, sickert langsam die Bedeutung dessen, was Sonja gesagt hat, in sein Bewusstsein.
Sie ist irrsinnig genug, etwas Drastisches zu tun. Sie scheint zu allem fähig. Er fährt sich mehrmals mit der Handfläche über die Haare, merkt nicht, wie rußig sie ist, denkt nach. Er kann nicht zulassen, dass diese Verrückte andere ins Unglück stürzt. Sie selbst ist ihm herzlich gleichgültig, aber Nicole hat es nicht verdient, von dieser Irren angegriffen zu werden. Als eine Möwe kreischend vorbeifliegt, versteht er plötzlich. Wie ein Wilder reißt er das noch verbliebene Papier aus dem Ordner. Das Feuer lodert hoch auf, qualmt stark, während Henry Sokop atemlos zu seinem Wagen rennt.
* * *
»Lass ihm einfach ein wenig Zeit. Es scheint, dass er eine Weile braucht, um alles zu verdauen. Ich war ja auch bis gestern noch irgendwie weggetreten.«
»Und da hast du dich auf dieses Interview eingelassen?« Nicole legt ihr Handy beiseite, schiebt sich mit der Sonnenbrille die Haare zurück und lehnt sich an die Achterreling der Niobe . »Oder ist das so eine Art Konfrontationstherapie? Nach dem Beinahe-Ertrinken sofort wieder aufs Schiff?« Sie ist noch immer wütend, weil er sie nicht sofort am Sonntag, nach seinem Unfall, angerufen hat. Ihr Vater steht, mit dem Rücken ans Steuerruder gelehnt, im blauen Blazer mit den Goldknöpfen und einer weißen Hose und betrachtet sich in seinem Taschenspiegel. Nur die weiße Skippermütze fehlt; die ist in der Ostsee geblieben. Er holt einen Kamm aus der Gesäßtasche und zieht den Scheitel seines am Hinterkopf schütter werdenden Haares nach. Dann kämmt er seinen Schnauzer und den Kinnbart. Dabei spricht er weiter.
»Papperlapapp. Wenn die Lokalpresse ein Unternehmerportrait von mir machen will, dann sage ich doch nicht nein. Warum auch immer die Dame es so eilig hat.« Er blickt sinnend auf Nicoles weiße kurzärmlige Bluse. »Du könntest gerne einen Knopf mehr aufmachen. Du hast doch nichts zu verstecken.«
»Papa!«
»Ich mein ja nur. Wir wollen auf den Fotos doch so vorteilhaft wie möglich rüberkommen.«
»Kennst du die Journalistin?«
»Nein, aber ich habe mich bei Schubert, dem Chefredakteur erkundigt. Die ist wohl ganz rührig, hat früher für das JOURNAL gearbeitet und so weiter.«
Nicole sieht auf ihre Armbanduhr.
»Hoffentlich ist sie
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