Sokops Rache
Kopf. »Ach was, es ist mir völlig gleichgültig, was andere denken. Aber ich sehe keine Zukunft für Nicole und mich. Warum soll ich mich also bewusst einer so demütigenden Situation aussetzen?«
Weller fühlt sich machtlos, unfähig, etwas gegen diese nachvollziehbare, desillusionierte Sicht seines Klienten einzuwenden. Henry hat ja Recht. Doch irgendetwas ist da im Hintergrund, das Weller nicht zu fassen bekommt. Etwas, das der ganzen vertrackten Konstellation vielleicht einen neuen Dreh geben könnte, wenn er nur darauf käme, um was es sich handelt. Henry verschweigt ihm ein wichtiges Detail, da ist er sich sicher.
»Was hast du ihr denn bisher über deine Vergangenheit erzählt?«
»Das wahrscheinlich Übliche: Mehrjähriger Auslandsaufenthalt.« Henry zuckt mit den Schultern.
»Hat ihr Vater etwas gegen eure Verbindung einzuwenden?«
»Nein, im Gegenteil. Er hat mir sogar einen Job angeboten.«
Weller spürt Ärger in sich aufkeimen. Das spricht doch für eine gewisse Toleranz des alten Oldenburgs. Weshalb nur sieht Henry aus, als hätte er gerade sein Todesurteil verlesen bekommen?
* * *
Die Plattenbewohner feiern – wie immer. Aus dem weit geöffneten Fenster drüben auf der fiesen Seite der Straße quillt Schlagermusik hinaus in den Sonntagvormittag. Sonja steht an ihrem Schreibtisch, packt Block, Diktafon und Kamera in ihre Tasche und schaut unverwandt hinüber zu den dort drüben am vermüllten Couchtisch hockenden, fahrig gestikulierenden Gestalten. Irgendwer – es ist nicht auszumachen, ob Mann oder Frau – kommt ins Zimmer und lässt sich zwischen die auf dem Sofa Sitzenden fallen, als wären diese gar nicht da. Rudernde Arme und Beine und vom Tisch gekickte Bierflaschen – wie immer.
Es ist kühl; Sonja schließt das Fenster, gibt ihrer Topfpflanze – ein Geschenk der Redaktion zu ihrem letzten Geburtstag – Wasser und verlässt die Wohnung. Im Wagen startet sie ohne darüber nachzudenken den CD-Player, taucht während der Fahrt ab in Henrys wohlklingende Stimme. Er schildert den Alltag in der Haftanstalt, spricht von endlosem Schrecken und peinigender Monotonie. Seine Worte sind gewählt; manches Mal zögert er, als wolle er ihr nicht zu viel zumuten. Er berichtet von Ritualen, Brutalitäten, Rangkämpfen. Und doch ist seine Stimme so weich, so einfühlsam. Wie hat er es dort drinnen nur ausgehalten! Sie kennt die Aufnahme beinahe auswendig, spricht manche Passagen im Geist mit. Sie ist ihm so nah und fühlt sich trotzdem so fern von ihm.
Sie kennt mittlerweile seinen Wagen und seine Adresse, war in seiner herzergreifend trostlosen Wohnung. Und sie hat seine Handynummer – sicher hat er vergessen, sie zu unterdrücken, als er sie anrief oder weiß noch gar nicht, dass man anonym anrufen kann. Und doch ist sie ihm keinen Deut nähergekommen. Umsonst hat sie gehofft, dass der kostbare Moment auf der Reriker Aussichtsplattform sich wiederholen würde. Er ist ihr gegenüber kalt wie ein Fisch. Selbst ihre Informationen über seinen Widersacher hat er ungerührt zur Kenntnis genommen, schien mit seinen Gedanken weit fort zu sein. Ihr armer Schatz, wie kann sie ihm bloß helfen? Bevor er sich auf sein Liebesleben – auf sie – konzentrieren kann, muss er vermutlich diese Sache, diese Abrechnung mit dem Bauunternehmer erledigen. Sein Denken scheint davon besessen, nichts anderes hat zurzeit eine Bedeutung für ihn. Da kann sie nicht erwarten, dass er sich zu ihrer Liebe bekennt.
Sie findet einen Parkplatz gegenüber der Stadtbibliothek und läuft unter den tief hängenden Wolken zum Alten Hafen. Kühler Wind bläst ihr vom Meer her entgegen. Heute ist der letzte Tag des jährlichen internationalen Folklorefestivals, über das sie berichten soll. Eigentlich hätte sie bereits an mindestens einem der vorigen Tage hier sein, das eine oder andere möglichst farbenfrohe Foto schießen, Teilnehmer und Publikum interviewen sollen. Doch sie hat sich zu nichts aufraffen können. Die Zeit seit ihrem Treffen mit Henry in seiner Wohnung zerdehnt sich in ihrer Wahrnehmung zu trüb-grauer Waschlauge, in der sie versinkt, nur ab und zu auftaucht, um eine weitere Weinflasche zu öffnen, die nächste Henryaufnahme zu starten oder sich für ein paar Stunden komatösen Schlafs aufs Bett fallen zu lassen. Sie weiß, dass sie ihre Tabletten nicht zusammen mit Alkohol nehmen sollte, doch anders will und will der Schlaf nicht kommen.
Bevor sie sich zum Festzelt aufmacht, in dem die Abschlussgala stattfinden
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