Sokops Rache
übliche, Kräfte verzehrende Mischung. Jetzt will er eine Weile lang so tun, als sei er Tourist, unbeschwert von allen Alltäglichkeiten den Blick über die historischen Schiffe und die dicken Pötte im Seehafen wandern und sich die Meeresbrise um die Nase wehen lassen. Und beim Baumhaus seinen kleinen geheimen Schwedenkopfzauber für sich und Ellen ausüben. Bevor er zurückkehrt in die wohlgeordnete Welt der Wohlanständigen, der überwiegend wohlmeinenden und weitgehend sorgenfreien Eigenheim-Wohlstandsbürger seines Wohnviertels, in dem er sich manchmal ebenso fremd und beklommen fühlt, wie seine Klienten sich in seiner Sprechstunde fühlen müssen. Ellen hat das Haus – eine kleine, liebevoll restaurierte Fachwerkscheune inmitten von Neubauten – schon bewohnt, bevor sie sich kennen lernten. Und meistens ist er dort in Fischkaten, dicht an der Küste und doch recht nah an der Wismarer Altstadt, auch gern. Alles eine Frage der Perspektive. Die verschiebt sich durch den Kontakt mit seinen Jungs und Mädels, die Beschäftigung mit ihren oft kummervollen und bedrückenden Lebensrealitäten oftmals und muss zum Feierabend hin wieder ein wenig gerade gerückt werden.
Er hält vor dem Baumhaus und tätschelt dem linken Schwedenkopf das Haupt, denkt dabei an Ellen, ihren Duft, ihr herbes Lachen, und ist sofort, ganz so, als habe er einer Buddhastatue über den Bauch gerieben, glücklich. Er umrundet das Gebäude, rollt bis zum Rand des Kais, wo er das Rad stoppt und hinaus auf das vom Wind gekräuselte Wasser der Wismarbucht blickt, das die Wolken grau färben. Eine weiße Yacht läuft gerade aus. Er kneift die Augen zusammen. Oldenburgs Niobe – welch ein Zufall. Er schaut, ob er Henrys Schopf erkennt, auch wenn seine Anwesenheit dort unwahrscheinlich ist, nach dem, was er ihm heute Morgen offenbart hat. Henry war heute in einer dermaßen defätistischen Verfassung, dass es an ein Wunder grenzen würde, ginge er nun mit seiner Liebsten und anderen auf einen Segeltörn. Nein, nur ein älterer Mann und zwei Frauen sind an Bord. Allerdings wirken die drei dort drüben auch nicht gerade unbeschwert, erwecken einen eher steifen, gezwungenen Eindruck. Weller zuckt mit den Schultern. Was geht es ihn an.
Am Wochenende will er wieder hinaus, mit der Ellen in Richtung Lübecker Bucht segeln. Soll er Henry anbieten, mitzukommen? Er tritt wieder in die Pedale, lenkt das Rad an den Backsteinsilos vorbei zum Brunkowkai. Ob Henry seine Andeutungen in die Tat umsetzen und wirklich die Stadt verlassen wird? Weller würde es bedauern. Er nimmt sich vor, morgen die Dreitageswetterprognose abzuwarten und Henry, wenn sie Segelwetter verspricht, anzurufen. Noch nie hat er einen seiner Klienten aufgegeben. Und diesen hier, den will er besonders ungern verlieren. Ihm ist nicht ganz klar, weshalb das so ist, welche Gefühlsebenen Henry Sokop in ihm zum Schwingen bringt, welcher Art seine eigene Resonanz auf den stillen, grauhaarigen Einzelgänger ist.
Sein Gedankenfluss wird durch einen Tumult dort vorn am Ende des Hafenbeckens gestört. Er fährt näher heran. Eine kleine Menschenmenge steht oben an der Kaikante, einige Leute gestikulieren unten auf einem der Anlegestege. Als er näherkommt, sieht er einen im Wasser um sich schlagenden Mann. Zwei andere halten ihm einen Bootshaken hin, ein dritter wirft ihm einen Rettungsring zu. Weller steigt vom Rad, schiebt es näher an die erregt diskutierenden Menschen heran.
»Frechheit, so was. Wirft den Mann ins Wasser und stiehlt ihm das Boot.«
»Unglaublich.«
»Mein Mann holt schon die Polizei.«
»Wahrscheinlich haben die beiden gestritten.«
»Nee, der eine kam einfach vorbei, springt bei dem ins Boot, ohne ein Wort.«
»Nicht zu glauben.«
»Ich hab es genau gesehen. Da, da hinten fährt er!«
Weller blickt den ausgestreckten Arm entlang und für einen Moment stockt ihm der Atem. Er hat Augen wie ein Luchs, wie Ellen behauptet, und was er mit ihnen sieht, ist alles andere als erfreulich. Die kurzen grauen Haare, die schwarze Windjacke mit dem auffälligen Emblem dieser bayrischen Modemarke auf der Rückseite, die er heute Morgen schon getragen hat – das ist unverkennbar Henry.
Sein Lieblingsklient steuert mit Vollgas in einem geraubten Boot hinaus in die Wismarbucht. Dorthin, wo vor ein paar Minuten die Yacht Oldenburgs das Hafenbecken verlassen hat. Egal, ob er das Boot aus romantischen oder ganz anderen Beweggründen gekapert hat, ihre gemeinsame
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