Solang die Welt noch schläft (German Edition)
ihre Mutter neben ihr erschien, ein Glas Apfelsaft in der Hand.
Allein der säuerliche Geruch ließ Übelkeit in Isabelle aufsteigen. Sie lehnte dankend ab.
»Lass das Mädchen in Ruhe, sie muss sich konzentrieren«, sagte ihr Vater und schob seine Frau zur Seite. Dann trat er gewichtig vor Isabelle und fuhr fort: »Denk daran, du musst vom Start weg kräftig in die Pedale treten. Eine Aufholjagd wie beim letzten Rennen solltest du nicht noch einmal versuchen.«
Isabelle knirschte mit den Zähnen. Wie sie es hasste, wenn ihr Vater vor jedem Wettkampf mit erhobenem Zeigefinger predigte, was sie tun und lassen sollte!
»Und pass auf, dass deine zukünftige Schwägerin dich nicht wieder in der ersten Kurve von links innen überholt. Im Herbst hast du dich dermaßen von ihr überrumpeln lassen …« Moritz Herrenhus verzog missbilligend den Mund. »Wehe, Irene Neumann steht am Ende wieder auf dem obersten Siegertreppchen! Diesmal möchte ich dich auf dem ersten Platz sehen.«
»Vielleicht wäre es das Beste, wenn du an meiner Stelle aufs Rad steigst?«, erwiderte Isabelle pampig, bekam dafür jedoch sogleich von ihrer Mutter einen Stoß in die Rippen.
Sie war erleichtert, als sie von weitem Adrian auf sich zukommen sah. Da er selbst Rennen fuhr, wusste er, wie man sich in den letzten Minuten zuvor fühlte. Im Gegensatz zu ihrem Vater würde er ihr gewiss nicht auf die Nerven gehen. Erneut fiel ihr Blick auf die Uhr. Noch fünfzehn Minuten … Wenn es nur schon so weit wäre!
Nach einem Küsschen auf die Wange und ein paar Ermutigungen fürs Rennen sagte Adrian: »Ich habe vorn am Eingang deine alte Freundin in der Warteschlange stehen sehen. Du weißt schon, die, die erst kürzlich hier war. Habt ihr sie eigentlich inzwischen als Mitglied aufgenommen?«
»Alte Freundin? Neues Mitglied? Von wem redet ihr?«, mischte sich sogleich Moritz Herrenhus ein.
Isabelle verdrehte die Augen. Diese Diskussion konnte sie jetzt gerade noch gebrauchen! Andererseits war sie unumgänglich, falls Josefine von nun an wirklich öfter hier auftauchen sollte. Und sosehr ihr vor der Konfrontation mit dem Vater graute, sosehr wünschte sie sich, sie hinter sich zu haben. Ansonsten konnte es schnell zu einer nicht nur für Josefine unangenehmen Situation kommen. Warum also nicht hier und jetzt? Wenn es ganz schlimm wurde, vermochte sie immer noch in zehn Minuten zum Rennen zu flüchten.
»Josefine hat mich hier im Verein besucht. Letzte Woche. Sie ist nach all den Jahren wieder in der Stadt. Und sie hat Interesse an einer Mitgliedschaft bekundet«, sagte sie in so neutralem Ton wie möglich.
»Josefine?«, wiederholten ihre Eltern wie aus einem Mund.
»Josefine Schmied? Die Tochter vom Schmied-Schmied?«, ergänzte Moritz Herrenhus stirnrunzelnd.
»Das ist doch die junge Frau, die –«, hob ihre Mutter an.
»Adrian ist sehr angetan von dem Gedanken, dass wir auch ein paar Arbeiterinnen in den Verein aufnehmen, nicht wahr, mein Schatz?«, unterbrach Isabelle sie. Sie warf ihrem Verlobten einen koketten Augenaufschlag zu, den er stirnrunzelnd zur Kenntnis nahm.
»Aber Josefine war doch diejenige, die Vaters –«, begann ihre Mutter erneut.
»Liebste Maman, wir wollen Adrian doch nicht mit unseren alten Geschichten langweilen«, fuhr Isabelle ihr ein zweites Mal über den Mund. Sie lächelte, um ihr unhöfliches Verhalten ein wenig abzumildern. »Hier und heute möchte Josefine gern Mitglied im 1. Berliner Veloverein für Damen werden, alles andere interessiert nicht. Ihr wisst doch, wie leidenschaftlich sie einst Velo gefahren ist.« Sie hob bedeutungsvoll die Brauen, und bevor jemand etwas sagen konnte, sprach sie eilig weiter: »Leider sträubt sich Adrians Schwester gegen Josefines Mitgliedschaft. Irene poliert ihren Standesdünkel, als handle es sich um ein Paar wertvolle Schuhe. Adrian sieht die Sache ganz anders, nicht wahr, Liebling?« Abermals ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr sie fort: »Und du, lieber Papa, bestimmt auch! Für dich sind Arbeiter auch Menschen, nicht wahr? Früher, als ich jünger war, hast du mich sogar ermutigt, mit den Nachbarsmädchen zu spielen, erinnerst du dich? Du hast dich sogar teilweise zu uns gesellt.«
Es kam selten vor, dass Moritz Herrenhus’ Antlitz Verwirrung und Unsicherheit widerspiegelte. Doch in diesem Augenblick war es der Fall. Isabelle grinste in sich hinein. »Damals, weißt du noch, als du Josefine so bereitwillig dein Veloziped ausgeliehen hast«, ergänzte sie mit
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