Solang die Welt noch schläft (German Edition)
ihrer Besessenheit. Aber allem Anschein nach waren der Alten ihre diversen Steckenpferde wichtiger!«
An der nächsten Haltestelle stiegen sie in eine andere Bahn um. Kaum dass sie saßen, nahm Isabelle mit gesenkter Stimme das Gespräch wieder auf. »Aber selbst wenn wir alle mit Engelszungen auf Jo eingeredet hätten, es hätte keinen Unterschied gemacht – sie war unersättlich und gegen gute Ratschläge völlig immun.«
»Warum hast du dann zugelassen, dass es überhaupt so weit kam? Gelegenheit macht Diebe – so heißt es doch, nicht wahr?«, fauchte Clara. »Außerdem hättest du dich stärker bei deinem Vater für Jo einsetzen können, vielleicht hätte er dann von einer Anzeige abgesehen.«
Isabelle lachte schrill auf. »Woher willst du wissen, ob und wie sehr ich mich bei meinem Vater für Jo eingesetzt habe?! Ich …«
Hin und her ging das Gespräch, weder Clara noch Isabelle sparten mit gegenseitigen Vorwürfen. Als sie nach mehrmaligem Umsteigen und einer guten halben Stunde Fahrzeit an der Haltestelle Landsberger Allee endlich aus der Stadtbahn stiegen, war die Stimmung zwischen ihnen so eisig wie der Ostwind.
»Wie beklemmend der Volkspark Friedrichshain im Winter aussieht«, murmelte Isabelle und wies in Richtung des einsamen Parks, in dem lediglich ein paar streunende Hunde unterwegs waren. Sie blickte ungewohnt beklommen drein.
Schweigend und mit bangem Herzen stapfte Clara neben ihr durch die frühwinterliche Einöde. Ein gutes Stück entfernt erhob sich ein düsteres kastenartiges Gebäude mit vielen kleinen Fenstern – das Frauengefängnis Barnimstraße. Der Bau strahlte Kälte und Bedrohung aus. Claras Schritt wurde immer schwerer.
Der Mann in dem kleinen Pförtnerhäuschen rechts neben dem Tor schaute unwirsch von seiner Zeitung auf. Mit zusammengekniffenen Augen ließ er seinen Blick erst über Isabelle, dann über Clara schweifen.
»Was wollt ihr?« Mit jedem Wort wehte eine Woge Fäulnis durch die Fensterlade. Statt Zähnen hatte der Mann nur noch schwarze, verfaulte Stummel im Mund.
Clara schauderte es, dennoch zwang sie sich zu einem Lächeln. »Wir wollen eine Freundin besuch-«
»Das hier ist kein Hotel, Besuche gibt’s nicht. Macht, dass ihr davonkommt!«, unterbrach der Mann sie barsch.
»Aber …«, hob Clara an. »So können Sie mit uns nicht umspringen …« Im nächsten Moment wurde sie von Isabelle zur Seite gedrängt.
»Meine Begleiterin hat sich falsch ausgedrückt, verzeihen Sie. Wir sind vom … Komitee zur Wiedereingliederung straffällig gewordener Mädchen in die Gesellschaft. Unsere Mütter sind Vorsitzende dieses Komitees. Uns schicken sie hierher, um herauszufinden, ob Spendengelder im Frauengefängnis Barnimstraße gut angelegt wären. Allein diesem Zweck gilt unser Besuch.« Isabelle warf Clara einen rüffelnden Blick zu, dann zückte sie ihr Portemonnaie. Mit einem honigsüßen Lächeln schob sie dem Pförtner einen Geldschein zu. »Ihre Arbeitgeber wären Ihnen sicher zu großem Dank verpflichtet, wenn Sie die Tätigkeiten eines solch bedeutenden Komitees durch … unbürokratische Hilfe unterstützen würden. Also – lassen Sie uns bitte ein. Die junge Dame, die wir im Namen des Komitees sprechen sollen, heißt Josefine Schmied.«
Das Gesicht des Pförtners verzog sich zu einem unangenehmen Grinsen. »Na, wenn das so ist … Allerdings müsste ich meine Kollegen vorn am Tor des Haupthauses ebenfalls von der Wichtigkeit eures Komitees überzeugen. Und ein, zwei weitere Aufsichtspersonen ebenfalls …« Er wedelte herausfordernd mit dem Geldschein.
Die Unternehmertochter rümpfte die Nase. Ohne ein weiteres Wort zu sagen, zerrte sie ein paar lappige Geldscheine aus ihrer Tasche.
»Nun machen Sie schon, wir haben es eilig.«
»Josefine Schmied!« Die Aufseherin, die unvermittelt im Unterricht erschienen war, schaute fragend von Krotzmann in die Runde. Zögerlich hob Jo die Hand.
»Mitkommen!«
Unter dem verärgerten Blick des Lehrers flüchtete Josefine aus dem Raum. Was hatte das zu bedeuten? War dies schon das Ende des Alptraums? Alles nur ein Missverständnis? Hatte Moritz Herrenhus seine Anzeige zurückgezogen? Josefine seufzte leise. Was für eine schöne Vorstellung.
Die Wärterin schloss einen kleinen, schmalen Raum auf, in dem ein Tisch und ein paar Stühle standen.
»Isabelle? Clara!« Beim Anblick der vertrauten Gesichter machte Josefines Herz einen Freudensprung. Sie fiel Clara um den Hals. »Dass ihr gekommen seid …«
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