Solang die Welt noch schläft (German Edition)
heraus. Warnend schaute er in die Runde, dann wandte er sich wieder dem Neuzugang zu. »Dein linker Vorderarm soll ganz, der rechte wenigstens mit seiner vorderen Hälfte auf der Tischplatte liegen.«
»Ich hatte einen Unfall. Meine Schulter ist verletzt, ich kann leider nicht anders sitzen«, sagte die junge Frau und strich sich eine Locke aus der Stirn.
Was war denn das für eine herausfordernde Geste? Warum schaute sie an ihm vorbei? Bildete sie sich ein, jemand Besseres zu sein? Wollte sie mit ihm kokettieren? Er spürte, wie die Anspannung erneut in ihm wuchs. »Glaubst du tatsächlich, ich würde eine solch läppische Ausrede gelten lassen?«, zischte er.
Schon ließ er seinen Stock auf ihre andere Hand prasseln. Einmal. Zweimal. Die Neue erbebte in einer Art, die nicht vom Schmerz allein geprägt war, sondern von etwas anderem, Unterschwelligem. Einen Moment lang befürchtete er, die junge Frau würde von ihrem Stuhl hochschießen und sich gegen ihn wehren. Doch der Moment ging vorüber und nichts geschah. Er atmete aus. So etwas würde sie nicht wagen! Hochmütig schaute er sie von oben herab an.
»Das wird dich hoffentlich lehren, mir keine Widerworte zu geben. Und damit du gleich Bescheid weißt: Für dich wird es hier kein gemütliches Kartoffelschälen in der Küche oder Bügeln in der Wäscherei geben. Ich teile dich unserem Hausmeister zu. Wollen wir doch mal sehen, was deine Schulter zu ein bisschen harter Arbeit sagt …«
Obwohl es kurz vor Mittag war, brannten in allen Häusern der Luisenstadt die Gaslampen – es war einer dieser Novembertage, an denen es nicht hell werden wollte. Isabelles Lippen waren weiß vor Kälte, ihre Augen tränten vom eisigen Ostwind, und fröstelnd zog sie ihren Mantelkragen enger um sich.
»Wo bleibst du denn? Seit nunmehr zehn Minuten stehe ich mir hier die Beine in den Bauch – das nächste Mal gehe ich gleich allein!«, sagte sie, als Clara endlich aus der Apotheke trat.
»Beklag dich nicht, ich hatte größte Mühe, überhaupt wegzukommen!«, antwortete Clara atemlos und rückte den Schulterriemen ihrer Tasche zurecht, in der neben ein paar Medizinfläschchen auch noch eine Tafel Schokolade und Pfefferminzbonbons für Josefine lagen. Ihren Eltern hatte sie gesagt, dass sie die Medizin an ein paar fußkranke ältere Kunden ausliefern wollte. Bevor Fragen nach dem Wie und Wem gestellt werden konnten, war sie zur Tür hinausgeschlüpft.
Im Eilschritt gingen die beiden jungen Frauen zur Stadtbahn und konnten gerade noch aufspringen, bevor sich diese in Bewegung setzte.
»Wenn ich an den Ärger denke, den ich wegen Jo mit meinem Vater bekommen habe, vergeht mir die Lust auf diesen Ausflug«, sagte Isabelle, als sie zusammengepfercht mit den anderen Fahrgästen auf den harten Holzbänken saßen. »In Teufels Küche hat sie mich gebracht! Und wenn meine Eltern wüssten, dass ich sie besuche, wäre gleich wieder etwas los.«
»Warum bist du dann nicht einfach zu Hause geblieben?«, fragte Clara gereizt und wandte den Kopf ab. Auch ihre Mutter würde ihr die Hölle heiß machen, wenn sie wüsste, wohin sie unterwegs war. Aber als sie im vergangenen Jahr mit gebrochenem Bein im Krankenhaus lag, hatte Josefine sie auch jeden Tag besucht. Da konnte sie doch jetzt nicht kneifen …
Clara lief ein Schauer über den Rücken. Josefine im Frauengefängnis Barnimstraße – allein den Satz zu denken fiel ihr schwer. Dort landeten Prostituierte, Trickdiebinnen und anderes Gesindel, aber doch nicht Josie, ihre beste Freundin aus Kindertagen!
»Außerdem«, fuhr sie Isabelle an, »bist du doch mit schuld daran, dass Josefine jetzt im Gefängnis ist! Durch dich ist sie doch erst auf all die dummen Gedanken gekommen. Du warst diejenige, die vor lauter Langeweile ständig neue Flausen im Kopf hatte.«
»Das ist ja … die Höhe«, antwortete Isabelle empört. » Ich habe Josefine gewiss nicht dazu angehalten, meinen Vater zu bestehlen! Ganz im Gegenteil, ich wollte sie von ihrem Plan sogar noch abhalten. Du hingegen hattest nur deine Arbeit im Kopf, was Jo trieb, war dir doch völlig egal.«
Clara schaute betroffen beiseite. Den Vorwurf, dass sie Jo nicht genug ins Gewissen geredet hatte, machte sie sich selbst oft genug – Isabelle brauchte sie dazu gewiss nicht.
»Und diese alte Nachbarin, diese Frieda, auf die Josefine so große Stücke hält – sie hätte Jo ruhig auch einmal ins Gewissen reden können«, trumpfte Isabelle weiter auf. »Sie wusste doch von
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