Solang die Welt noch schläft (German Edition)
hilft er bestimmt auch dir.«
Auf einmal war alles zu viel für Jo: Isabelles Erzählungen, die in ihr ein dumpfes Gefühl des Ausgeschlossenseins hatten entstehen lassen. Der einschüchternde Besuch des Beamten. Die Frage, wer sie bei ihm angeschwärzt hatte. Der Ärger über ihre eigene Naivität.
»Wieso sprichst du so abfällig über deinen Verlobten? Das hat doch mit Liebe und Zuneigung nichts zu tun! Mag sein, dass ich nicht so welterfahren und klug bin wie du, und eine Einladung zum Kaiser werde ich auch nie bekommen, aber eins weiß ich ganz genau: Hätte ich einen Verlobten, würde ich niemals so über ihn reden«, schrie sie Isabelle an. »Du solltest dich schämen!« Sie nahm den schmutzigen Lappen und warf ihn wütend nach ihrer Freundin, auf deren Rock die Polierpaste einen dumpfen Schleier hinterließ.
Isabelle schaute sie erstaunt und entsetzt zugleich an. Doch im nächsten Moment zeigte sich schon wieder ein spöttischer Zug um ihre Mundwinkel.
»Was weißt du schon von der Liebe? Gar nichts weißt du, gar nichts!«
Als habe sie einen Schlag bekommen, zuckte Josefine zusammen. Isabelle hatte recht. Noch ein Bereich, in dem sie dumm und unerfahren war. Was sie von der Liebe »wusste«, war das, was die jungen Frauen im Gefängnis von ihren Liebschaften erzählt hatten und später die Arbeiterinnen in der Schuhsohlenfabrik. Aber deren prahlerische und teilweise sehr grobschlächtige Schilderungen von dem, was zwischen Mann und Frau geschah, hatten für Josefine mit Liebe nichts zu tun. Liebe … Bedeutete das nicht ein gegenseitiges Verständnis auf einer höheren Ebene? Dass einer den anderen schätzte, ihm zuhörte und man sich sogar ohne Worte verstand? Dass man gemeinsame Interessen hatte oder sich wenigstens für die Interessen des anderen begeistern konnte? Dass man sich nach dem anderen sehnte und es nicht abwarten konnte, ihn wiederzusehen? So, wie sie selbst bei …
Josefine griff sich ans Herz, während eine plötzliche Erkenntnis sie durchdrang.
War sie womöglich schon längst verliebt? O Gott, wenn das stimmte –
»Und von mir weißt du auch nichts!«, riss Isabelle sie aus ihren Gedanken. »Aber statt zu fragen, wie es mir geht und was mit mir los ist, ziehst du deine eigenen Schlüsse und verurteilst mich. Eine schöne Freundin bist du!«
Es war noch nie vorgekommen, dass Isabelle vor ihr in Tränen ausbrach. Isabelle war launisch, hochfahrend und manchmal arrogant. Die meiste Zeit jedoch zeigte sie der Welt nur ihr fröhliches Ich. Dass dieses oft nur aufgesetzt sein könnte, auf diese Idee wäre Josefine nie gekommen. Die Fabrikantentochter hatte doch alles, was man sich wünschen konnte, oder?
Betreten und hilflos zugleich schaute Jo Isabelle an, die laut schluchzend auf der Werkbank zusammengesunken war, den Kopf zwischen ihren Armen verborgen. »Verzeih mir, ich habe es nicht so gemeint.« Hätte sie doch bloß ihren Mund gehalten!
Im nächsten Moment drehte sich Isabelle zu ihr um und warf sich ihr in die Arme.
»Du glaubst gar nicht, wie schrecklich alles ist!«, schluchzte sie an Josefines Brust. »Lange halte ich das nicht mehr aus, wenn sich nicht bald etwas ändert, bring ich mich um!«
Arm in Arm gingen sie hinüber ins Haus. Widerstandslos ließ sich Isabelle von Jo zum Sofa führen und in die alte Wolldecke einwickeln. Friedas Katze sprang auf Isabelles Schoß, als spüre sie ebenfalls, dass der jungen Frau Nähe und Wärme guttaten. Josefine ging in die Küche und kochte Tee.
Ihre Teetasse fest umklammert, begann Isabelle zu erzählen. Stockend, als fiele es ihr im Rückblick selbst schwer, die ganze Geschichte zu glauben, berichtete sie von dem Kuhhandel, den Moritz Herrenhus mit Gottlieb Neumann abgeschlossen hatte, und davon, welchen Beschluss Adrian und sie daraufhin gefasst hatten.
Josefine glaubte nicht richtig zu hören. »Ihr seid nur zum Schein verlobt? Ihr habt die ganzen letzten Jahre nur so getan, als ob ihr euch liebt und heiraten wollt?«
Angesichts ihrer Fassungslosigkeit gelang Isabelle schon wieder ein kleines Lächeln. »So gesehen haben wir unsere Sache gut gemacht, oder? Versteh mich nicht falsch – ich mag Adrian sehr, er ist ein wunderbarer Mann, klug, gutaussehend …« Sie zuckte mit den Schultern. »Aber er ist nicht der Mann, an dessen Seite ich mein Leben verbringen will. Ich liebe ihn nicht«, sagte sie schlicht, aber mit fester Stimme.
Josefine schossen so viele Fragen durch den Kopf, dass sie nicht wusste, wo sie anfangen
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