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Solang die Welt noch schläft (German Edition)

Solang die Welt noch schläft (German Edition)

Titel: Solang die Welt noch schläft (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Durst-Benning
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großzügige Straßenschluchten, die silbern glänzten wie ein Teppich, der speziell für Adrian ausgerollt worden war. Ein eisiger Wind wehte ihn fast vom Rad, seine Fahrradlampe schaukelte wild von links nach rechts, als er die Wells Street, die mitten ins Herz von Chicago führte, entlangradelte. Adrian strahlte.
    Er hatte es geschafft! Er war an seinem Ziel angekommen.
    Der Besitzer des Hotels Victoria, in dem er abstieg, war ein Deutscher. In breitestem Sächsisch erklärte er ihm, wo es gute und günstige Kleidung gab – Adrian hatte vor, sich vor seinem Besuch bei den Western Wheel Works neu einzukleiden. Der Mann sagte ihm auch, wo man gut und günstig essen konnte und wo die besten Huren der Stadt zu finden waren. Adrian nahm alle Tipps dankend an, nur bei Letzterem winkte er lachend ab. Er hatte weiß Gott anderes im Sinn!
    Der Herrenausstatter, bei dem er sich noch am selben Tag eine gestreifte Hose – »pin-striped« nannte man das Muster in Amerika –, etliche Hemden und ein neues Jackett aussuchte, kam ebenfalls aus Deutschland, genauer gesagt aus Konstanz. »Der Lake Michigan ist nur ein bisschen größer als der Bodensee, genau wie die Möglichkeiten, die ich in Amerika habe – sonst hat sich nicht viel geändert«, sagte der Mann lachend, als sie ins Gespräch kamen.
    Wie das sein könne, wollte Adrian ungläubig wissen – immerhin wäre man hier doch in Amerika!
    Der Herrenausstatter lachte erneut. »In Chicago leben über eine halbe Million Deutsche, es ist wahrlich kein Problem, sich hier heimisch zu fühlen.« Natürlich wollte er wissen, was Adrian von Berlin bis hierher geführt hatte.
    »Ich möchte zu den Western Wheel Works«, antwortete Adrian, während er den Sitz seiner neuen Jacke kritisch im Spiegel prüfte. »Die Fabrik stellt angeblich günstige Fahrräder her. Wenn das stimmt und ich mit dem Besitzer ins Geschäft komme, möchte ich sie nach Deutschland importieren.«
    »Oh, den Inhaber der WWW , Adolph Schoeninger, kenne ich gut, wir sind zusammen im Deutsch-Amerikanischen Verein«, antwortete der Mann zu Adrians Überraschung. »Er ist zwar im Business als harter Hund bekannt, und wahrlich, er führt sein Werk mit strenger Hand, aber er weiß, wovon er spricht. Und er ist immer fair, ein Handschlag gilt bei ihm so viel wie das geschriebene Wort. So sind sie halt, die Württemberger.«
    »Er ist Württemberger?« Adrian starrte im Spiegel den Herrenausstatter an, der hinter ihm stand und das Jackett zurechtzupfte. Der Mann erwiderte seinen Blick schmunzelnd.
    »Wussten Sie das etwa nicht? Sie sind den ganzen weiten Weg gereist, nur um bei einem Landsmann Fahrräder zu kaufen.«
    Trotz Magenknurren verzichtete Adrian auf eine ausgedehnte Mittagsmahlzeit. An einem Würstchenstand schlang er lediglich einen Imbiss hinunter. Dann bestieg er die Straßenbahn, deren Kabelgewirr wie ein Baldachin über allen Straßen lag. Er wollte zu Adolph Schoeninger, und zwar schnell.
    Obwohl er in Gedanken schon einen Schritt weiter war, faszinierte ihn die Stadt, die er von seinem Sitzplatz aus an sich vorbeiziehen sah. So viele Baustellen, auf denen noch mehr Häuser in die Höhe gezogen wurden! Überall Telegrafen- und Elektrodrähte, die von Arbeitern in prekären Höhen über Masten gespannt wurden. Ein nicht enden wollender Strom von Passanten, die geschäftig und ohne nach links oder rechts zu schauen die breiten Straßen überquerten – dass es dabei nicht zu Toten kam, war für Adrian ein Wunder. Und dann die Fahrräder, überall Fahrräder! Junge Männer, alte Männer, elegante Frauen und schlicht gekleidete Dienstmägde, Kinder, Herren in Zylinder und welche ohne Kopfbedeckung – und alle fuhren auf dem Velo.
    Chicago sei in jeder Hinsicht eine »Boomtown«, hatte der Herrenausstatter gesagt. Nun verstand Adrian, was damit gemeint war. Die Energie, die die Stadt und ihre Menschen ausstrahlten, war so immens, dass sie sich auf Adrian übertrug wie eine ansteckende Krankheit. Als das riesige Fabrikschild mit der Aufschrift »Western Wheel Works & Crescent Bikes« in Sichtweite kam, sprang er von seinem Sitz auf wie von einem Dutzend Hummeln gestochen.
    »An wie viele Räder haben Sie denn gedacht?« Während er sprach, winkte Adolph Schoeninger einen seiner Vorarbeiter herbei und rief ihm etwas in so schnellem Amerikanisch zu, dass Adrian kein Wort verstand. Der Mann rannte daraufhin zu einer riesigen Maschine und begann hektisch, an deren Knöpfen zu drehen. Ein krakenhafter

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