Solang die Welt noch schläft (German Edition)
wie auf Engelsflügeln trug.
Mit dem Wind kam auch eine innere Leichtigkeit. Was war das nur für ein gnädiges Schicksal, das es ihr erlaubte, dieses Rennen mitfahren zu dürfen? Tief durchatmend schaute sich Jo die Dünenlandschaft an, die immer wieder von einem Fjord zerklüftet wurde. Wie viel anders es hier aussah als in der Heimat! Das Land war offener, viel weniger besiedelt als die Gegend rings um Berlin. Es gab keine Berge, nur leichte Erhebungen. Das Heidegras, das immer büschelweise aus dem sandigen Boden wuchs, war nicht grün wie das Weidefutter der Rindviecher zu Hause, sondern glänzte golden und stand in einem majestätischen Kontrast zum tiefblauen Wasser. Kleine weiße Schaumkrönchen – oder waren es Segelboote? – schaukelten auf den Wellen auf und ab. Dichte Wälder wie im Norden Berlins gab es hier auch nicht, dafür kleine Wäldchen mit skurril geformten Bäumen, die eine weiße Rinde hatten und vom ewigen Wind tief geduckt dastanden.
»Herrlich, nicht wahr?«, sagte Irene, und ihre sonst so arrogante Stimme klang fast demütig.
Jo nickte, erwiderte jedoch nichts. Sie verspürte auf einmal eine unangenehme Trockenheit im Mund. Als sie versuchte, genügend Spucke zu sammeln, um einmal kräftig zu schlucken, gelang es ihr nicht. Urplötzlich überfiel sie ein leichter Schwindel, ihr Rad verließ die Ideallinie, und fast wäre sie über den Straßenrand hinausgefahren. Was ist denn mit dir los, konzentrier dich!, ermahnte sich Jo. Dann fiel es ihr ein: Sie hatte das Trinken vergessen! Erschrocken über ihren Leichtsinn, kramte sie eine ihrer Trinkflaschen aus der Tasche und trank fast die halbe Flasche in einem Zug leer. Nach einer Viertelstunde fühlte sie sich wieder besser. Jo beschloss, ein Käsebrot zu essen, bevor ihr auch noch der Hunger zu schaffen machte.
Nach gut zweihundert Kilometern erreichten Josefine, Irene und eine Engländerin, die sich ihnen angeschlossen hatte, Vordingborg, den südlichsten Ort ihrer Dänemarkfahrt. Für alle drei Fahrerinnen war das Rennen bisher gut gelaufen, es war ihnen gelungen, ein gleichmäßig zügiges, aber nicht zu kräftezehrendes Tempo zu fahren. Es war sieben Uhr abends. Kurz nach sieben trudelte zu Jos Freude auch Lilo ein.
»Wie sieht’s aus – fahren wir gleich weiter?«, fragte die Schwarzwälderin, als hätte sie lediglich eine Spazierfahrt hinter sich.
Josefine horchte in sich hinein: Dank des Rückenwindes, den sie die letzten hundert Kilometer genossen hatten, war sie nicht übermäßig erschöpft. Hundert Kilometer – oder anders gesagt drei bis vier Stunden – würde sie bestimmt noch in guter Verfassung fahren können!
So füllte sie lediglich ihre Wasserflasche neu und machte sich zusammen mit Lilo und Irene, die ebenfalls noch fit war, auf den Weg in Richtung Køge, den Kontrollpunkt, an dem Charles Hansen einen Verpflegungsposten sowie Schlafmöglichkeiten für die Fahrer bereithielt.
Auf der Straße hinter Vordingborg brach die Dunkelheit über sie herein, und sie mussten ihre Gaslampen anzünden, um die Straße besser sehen zu können.
»Schade, dass das Rennen nicht später stattfindet«, sagte Irene, deren Lampe unangenehm hektisch flackerte. »Im Sommer sind die Nächte hier oben im Norden fast taghell, da hätten wir uns eine Lampe sparen können.«
»Dafür hätten uns laut Charles dann die Stechmücken aufgefressen«, erwiderte Jo und biss herzhaft in den Apfel, den sie sich eingesteckt hatte.
Nach weiteren fünfzig Kilometern wurden Jos Beine schwer. Sie hatte all ihre Brote gegessen und fünf Wasserflaschen leer getrunken. Irgendwann konnte sie an nichts anderes mehr denken als an eine heiße Suppe. Irene erging es nicht anders, sie sprach jedoch ständig von einer Tasse heißem Kaffee, während Lilo ihnen von einem Brot mit herzhaftem Schwarzwälder Schinken vorschwärmte.
Lachend und leicht hysterisch ermahnten sie sich gegenseitig, an andere Dinge zu denken.
Mit einem riesengroßen Loch im Bauch fuhr Josefine nach weiteren fünfzig Kilometern schließlich in die Koge-Bucht ein. Es war elf Uhr in der Nacht – hoffentlich hatte der Verpflegungsposten nicht schon alles wieder eingepackt. Und hoffentlich würden sie den Posten in der Dunkelheit nicht übersehen! Ihre Beine waren so kraftlos und schwer, als wäre das Blut darin zu einer zähen Masse gestockt. So konnte sie keinen Kilometer mehr fahren – wenn sie nichts zu essen bekam, würde sie wahrscheinlich aufgeben müssen … Hätte sie
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