Solang die Welt noch schläft (German Edition)
dagegen. Ihr Tempo war nicht zu langsam und nicht zu schnell, sie fühlte sich damit richtig gut. Warum also etwas ändern?
»Lassen wir sie fahren«, sagte auch Lilo, die zu ihr aufschloss. »Wer jetzt die Nase vorn hat und ein Rennen zu schnell angeht, fährt am Ende den anderen meistens hinterher, das ist meine Erfahrung. Plaudern wir lieber ein bisschen. Hast du dich noch mit Isabelle aussprechen können?«
Jo verneinte.
»Ich verstehe nicht, warum du Isabelle nicht schon längst reinen Wein eingeschenkt hast«, sagte Lilo. »Ich wäre ehrlich gesagt an ihrer Stelle auch verärgert.«
»Worüber? Die Verlobung zwischen Isabelle und Adrian war doch nichts als eine Farce! Es war nicht so, als ob sie ein Anrecht auf ihn gehabt hätte. Du hättest mal hören müssen, wie abfällig sie stets über Adrian gesprochen hat«, antwortete Jo heftig. »Außerdem – was hätte ich denn beichten sollen? Ein paar Küsse und Umarmungen? Mehr ist zwischen Adrian und mir bisher doch gar nicht vorgefallen. Dass wir uns ineinander verliebt haben, haben wir doch erst kurz vor seiner Abreise festgestellt. Seit dem vergangenen Frühjahr habe ich Adrian nicht mehr gesehen. Und außer ein paar Postkarten und ein, zwei Briefen auch nichts von ihm gelesen. Was also, frage ich dich, hätte ich Isabelle ›beichten‹ sollen?«
»Na, wenn das so ist …« Lilo runzelte die Stirn. »Warum führt sich Isabelle dann so auf?«
Josefine machte einen Schlenker nach rechts, um einem Schlagloch auszuweichen. »Da fragst du die Falsche. Nie hätte ich gedacht, dass Isabelle mir das Ganze übelnehmen würde. Ich dachte, sie freut sich für mich!«
»Vielleicht lag es auch nur am Zeitpunkt – so kurz vor dem Rennen reagieren manche Fahrerinnen äußerst nervös und ganz anders als sonst. Isabelle war schon in den letzten Tagen ständig gereizt, findest du nicht?«
»Wundert dich das?«, gab Jo zurück. »Bei all den Tabletten und Pillen, die Leon ihr verabreicht …« Sie schüttelte missbilligend den Kopf. Natürlich hatte auch sie ein paar der Wundermittel probiert, von denen so viele Radsportler schwärmten. »Dop« oder »Doping« wurden solche Mittel genannt. In einer Radsportzeitung hatte sie gelesen, dass dieser Begriff auf burische Siedlerkolonialisten in Südafrika zurückzuführen war. Diese bezeichneten anscheinend einen stark wach machenden Schnaps als Dop – ein Begriff, der dann einfach für andere Wachmacher wie Cola und Cocain übernommen worden war. Wach machten solche Mittel tatsächlich, aber Josefine hatte zugleich das Gefühl für ihren Körper verloren und nicht mehr gespürt, wann sie der Erschöpfung nahe war und wann nicht. Dadurch hatte sie sich über alle Maßen verausgabt und Ewigkeiten gebraucht, um wieder zu Kräften zu kommen. Eine beängstigende Erfahrung.
Lilo hob fragend die Brauen. »Isabelle nimmt Dopingmittel?«
»Und nicht zu wenig«, antwortete Jo und trat schneller in die Pedale.
Zügig und beinahe schweigend fuhren sie bis in den Fjord von Kalundborg, wo im Hafen die Kontrollstation aufgebaut war.
Entzückt betrachtete Jo den ersten Stempel in ihrem Heft. Wie schön würde es erst aussehen, wenn alle fünfzehn Stempel darin waren?
Susanne und ihre Gruppe hatten den Kontrollpunkt schon vor einer guten halben Stunde passiert, erfuhren sie. Lilo und Jo schauten sich an – die Dänin war allem Anschein nach wirklich eine Klasse für sich!
Da von Adrian und Gerd Melchior in ihrer Begleitkutsche nichts zu sehen war und sich ihre Beine noch gut anfühlten, beschloss Jo weiterzufahren. Lilo hingegen wollte eine Toilette aufsuchen und später wieder zu ihr aufholen.
Als Josefine sah, wer sich stattdessen an ihre Seite schlug, war sie wenig begeistert. Oje, gleich würden sie kommen, die quälenden Fragen, die arroganten Bemerkungen und –
»Keine Sorge, ich werde dich jetzt nicht nach meinem Bruder fragen«, sagte Irene.
Jo warf ihr einen überraschten Seitenblick zu. »Tja, weißt du …«, begann sie lahm, ohne eigentlich zu wissen, was sie sagen wollte.
Irene grinste sie tief über den Lenker gebeugt an. »Lass gut sein. Schlimmer als die Vorstellung, Isabelle zur Schwägerin zu bekommen, kann’s gar nicht werden. Wer weiß – vielleicht werden wir uns irgendwann einmal sogar prächtig verstehen?« Obwohl eine Spur Ironie in ihrer Stimme mitschwang, klang Irene nicht unfreundlich.
»Wer weiß?«, gab Josefine schmunzelnd zurück und genoss den Rückenwind, der sie die Küste entlang
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