Solang die Welt noch schläft (German Edition)
mit klopfendem Herzen zuschaute. Das wollte, das musste sie auch versuchen! Doch als sie Lieselotte darum bat, schüttelte diese den Kopf.
»So einfach ist das nicht, Velofahren muss man üben. Außerdem – ich habe noch nie jemanden auf das Rad gelassen, es gehört mir ja nicht. Was, wenn etwas passiert?«
»Es passiert schon nichts, wir sind einfach vorsichtig«, erwiderte Josefine. Je länger sie das glänzende Velo betrachtete, desto größer wurde ihr Begehren, selbst einmal darauf zu sitzen.
»Ich kenne dich doch gar nicht. Womöglich gehörst du doch zu den geschwätzigen Mädchen und plauderst die Sache aus? Dann komme ich in Teufels Küche.«
Josefine schaute Lilo eindringlich in die Augen und sagte: »Ich schwöre dir bei Gott, dass ich keinen Ton über das hier verlauten lasse, niemals und nirgendwo.«
Einen kurzen Moment noch zögerte Lilo, dann gab sie sich einen Ruck. »Also gut. Aber erst morgen. Jetzt muss ich nämlich eilig nach Hause. Morgen Vormittag treffen wir uns wieder hier. Und wehe, du sagst auch nur ein Sterbenswörtchen!« Sie setzte sich erneut aufs Rad, dann fuhr sie, ohne sich noch einmal umzudrehen, den Berg hinab.
In dieser Silvesternacht lag Josefine lange wach. Aber es waren nicht die Gedanken ans vergangene Jahr oder das neue Jahrzehnt, die ihr die Nachtruhe raubten. Es war auch nicht ihr Husten oder Heimweh, die sie vom Schlafen abhielten, sondern der Gedanke, am nächsten Tag auf einem Velo zu sitzen.
»Beide Hände hier fest an den Lenker legen. Fest , habe ich gesagt. Und zittere nicht so. Nun den linken Fuß aufs linke Pedal.«
Josefine lachte nervös, während sie Lilos Anweisungen befolgte. Ihr Rock knüllte sich bauschig unter ihrem Hintern zusammen, doch trotz der vielen Stoffschichten spürte sie den Sattel hart zwischen den Beinen.
»Ich weiß nicht …« Verlegen schaute sie zu Lilo hinüber. »Ist es schicklich, sich so … breitbeinig auf dieses Gefährt zu setzen?«
Lieselotte lachte. »Willst du etwa im Damensitz fahren? So wie feine Damen auf feinen Rössern sitzen? Habe ich längst probiert. Funktioniert nicht. Entweder du wagst es so oder du lässt es bleiben.« In ihrer Stimme klang eine Entschiedenheit mit, bei der Josefine jedes weitere Zaudern verlor. Sie spannte die Muskeln in ihren Oberschenkeln an, um den Sattel fest zu umschließen. Doch gleich darauf begannen dieselben Muskeln zu zittern und –
»Hör zu, es ist doch niemand da, der uns sieht!«, rief Lilo. »Konzentriere dich auf den Weg vor dir, und dann geht’s los.«
Josefine nickte unsicher. Der Waldweg, auf dem Lilo am Vortag das Velo vorgeführt hatte, kam ihr heute so viel schmaler vor. In der Nacht hatte es geregnet, ein kalter Regen, der in den höheren Lagen des Waldes zu einer dünnen Eisschicht gefroren war. Auf dem Weg hierher war Josefine mehr als einmal fast ausgerutscht. Womöglich waren die Verhältnisse zum Velofahren heute gar nicht geeignet?
»Sobald du den rechten Fuß aufs rechte Pedal schwingst, musst du lostreten. Nun mach schon!«
Krampfhaft befahl Josefine ihrem rechten Fuß, sich vom Boden zu lösen. Nichts geschah.
»Du brauchst keine Angst haben, ich laufe doch neben dir her und halte dich, es kann dir also nichts passieren.«
»Ich … weiß nicht. Ich sitze so hoch. Bestimmt falle ich um, sobald ich den Fuß lüpfe …« So schwer, wie sie war, konnte die zierliche Lilo sie doch gar nicht halten.
»Du fällst nicht um, ich habe dir doch gezeigt, wie alles geht«, erwiderte Lieselotte eine Spur ungeduldig.
Josefine nickte kläglich. »Ja, schon. Aber ich trau mich nicht.« Während ihr linker Fuß auf dem Pedal stand, verharrte ihr rechter wie angewurzelt auf dem Waldweg.
»Dann steig ab und lass mich fahren. So oft bietet sich mir diese Gelegenheit nun auch nicht. Sobald Herr Braun nach Schömberg kommt, ist’s für mich aus und vorbei mit dem Velofahren.« Schon griff Lilo nach dem Lenker.
Josefine biss sich auf die Unterlippe. Wenn sie sich jetzt nicht traute … Eine solche Chance würde sich ihr vielleicht nie mehr bieten.
»Aber nur ein Stück geradeaus, ja?« Flehentlich schaute sie ihre neue Freundin an.
Lilo grinste. »Glaubst du etwa, ich würde dich beim ersten Mal gleich bergab fahren lassen? Und das Kurvenfahren ist auch eine Kunst, beim ersten Versuch ist das nicht zu meistern. Du fährst einfach bis zu der Dreiergruppe von Bäumen da vorn und hörst dann auf, die Pedale zu treten.«
Das hörte sich nicht allzu schwer an.
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