Solang die Welt noch schläft (German Edition)
sein? Hatte sie nicht laut und deutlich gesagt, sie solle langsamer fahren? Da erklärte sie sich bereit, Jo eine Fahrstunde zu geben, und dann das.
Das gelbe Haus des Unternehmers, von dem Lilo das Rad »ausgeliehen« hatte, war schon in Sicht, als die Tochter des Hausmeisters abrupt stehen blieb. Sie holte tief Luft und grinste Josefine dann verschmitzt an.
»Aber Spaß hat’s gemacht, nicht wahr?«
Zurück im Sanatorium, schlich Josefine in ihr Zimmer. Betrübt betrachtete sie ihre von den Bremsversuchen verschrammten Schuhe – die waren wirklich hinüber. Gott sei Dank hatte sie auch ihr zweites Paar Schuhe dabei.
Dann wusch sie sich sorgfältig ihr blutverschmiertes Gesicht. Während der ganzen Zeit pochte ihr rechter Arm unaufhörlich, der Schmerz schien mit jeder Minute stärker zu werden. Was, wenn doch etwas gebrochen war?
»Ich bin auf einer vereisten Fläche ausgerutscht«, sagte sie zu Schwester Gertrude, die daraufhin den Arm in alle Richtungen bog und drehte. Eine Stauchung, schmerzhaft zwar, aber kein Bruch. Ein Salbenverband aus Beinwell würde die größten Qualen lindern.
»Du fängst das neue Jahrzehnt ja prima an«, sagte die Krankenschwester, woraufhin Josefine in Lachen ausbrach, was von Gertrude mit einem verständnislosen Kopfschütteln quittiert wurde.
Schon am nächsten Tag trafen sich die jungen Frauen erneut am Ortsausgang von Schömberg oder besser gesagt am Haus des Unternehmers Braun.
»Kannst du mit deinem Arm überhaupt fahren?«, fragte Lilo und zeigte auf die Schlinge, in der Josefine ihren rechten Arm trug.
Mit einem Ruck befreite Josefine ihn daraus. »Die trage ich nur Schwester Gertrude zuliebe, alles ist bestens«, sagte sie, einen Schmerzensschrei unterdrückend.
»Ich bin verrückt, dich nach deiner Eskapade überhaupt nochmal aufs Rad zu lassen«, sagte Lilo, während sie den Schuppen aufschloss, in dem das Velo stand. »Eins sage ich dir gleich: Von nun an üben wir auf ebenem Gelände! Ich kenne eine Straße, auf der sich fast nie jemand zeigt. Einst hat sie das Dorf mit einem Berghof verbunden. Doch der Hof steht seit Jahren leer. Es ist zwar ein gutes Stück bis dahin, aber dafür ist die Straße perfekt fürs Velofahren!«
Josefine war alles recht, solang sie überhaupt wieder auf das Fahrrad durfte. Eilfertig schob sie das schwere Gefährt einen unebenen, aber mit dichten Hecken bewachsenen Feldweg entlang. Wie gut sich der Lenker in ihrer Hand anfühlte! So weich und rund und schwer zugleich.
»Wenn irgendwo eine Kutsche oder ein Fußgänger auftaucht, legst du das Velo ab und wir gehen hinter der Hecke in Deckung«, sagte Lilo, die sich fortwährend umschaute.
»Warum fragst du diesen Herrn Braun nicht einfach, ob du sein Velo während seiner Abwesenheit ab und zu ausleihen darfst? Ich meine, es steht doch eh nur herum, vielleicht ist er ja so freundlich und gibt dir die Erlaubnis«, sagte Josefine. Lilos Heimlichtuerei machte sie so nervös, dass auch ihr Blick alle paar Meter nach hinten wanderte, als säße ihr der Leibhaftige im Nacken. Doch die abgeernteten Felder lagen brach und einsam da. Hie und da flog eine Krähe, gestört durch die beiden jungen Frauen, krächzend auf.
Lilo sah sie entsetzt an. »Bist du verrückt? Ich bin ein Mädchen, falls dir diese Tatsache bisher entgangen ist!«
»Na und? Was –«
»Ich hab dir doch erzählt, was sie in der Zeitung über velofahrende Frauen schreiben. In den Augen der Leute ist das nur etwas für Männer und junge Burschen, aber nichts für uns, das schwache Geschlecht.« Die letzten Worte kamen sehr ironisch. »Nie und nimmer würde Herr Braun sein wertvolles Gefährt einem Mädchen überlassen. Und was glaubst du, welchen Aufruhr es geben würde, wenn ich mit zusammengebauschtem Rock durchs Dorf radele. Die Leute würden mich davonjagen.«
Josefine, die davon überzeugt war, dass Lieselotte maßlos übertrieb, lachte.
Der Feldweg war leicht vereist und holprig. Konzentriert versuchte Josefine, das Velo zwischen den größten Buckeln hindurchzubugsieren. Eine Zeitlang marschierten sie schweigend nebeneinanderher, dann sagte Josefine: »Wo gibt es solch ein Veloziped eigentlich zu kaufen? Und wie teuer ist es? Und seit wann gibt es diese Erfindung?« Die ganze Nacht über waren ihr diese und noch viel mehr Fragen durch den Kopf gegangen.
»Du stellst vielleicht Fragen. Woher soll ich das alles wissen?«, antwortete Lilo. »Eigentlich dachte ich, dass eine aus der Großstadt über solche Dinge
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