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Solang die Welt noch schläft (German Edition)

Solang die Welt noch schläft (German Edition)

Titel: Solang die Welt noch schläft (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Durst-Benning
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eher Bescheid weiß.«
    »Ich glaube, du hast eine völlig falsche Vorstellung vom Leben in der Stadt«, sagte Josefine stirnrunzelnd. »In unserem Viertel ist es auch nicht viel anders als bei euch im Dorf, auch bei uns gibt’s einen Bäcker und einen Schlachter und einen Laden, in dem wir Schuhbändel kaufen. Und aus diesem Viertel komme ich fast nie heraus«, fuhr sie fort. »Ein Velo habe ich leider noch nie gesehen.« Dann wechselte sie das Thema.»Aber wie kommt es eigentlich, dass du so einfach ein paar Stunden am Tag verschwinden kannst? Hast du keine Hausaufgaben zu machen? Oder Arbeiten im Haus? Wenn ich an daheim denke – bei uns gibt es immer so viel zu tun, dass ich kaum Zeit für mich habe. Nur die Besuche bei deiner Großtante Frieda, die lasse ich mir nicht nehmen.«
    Statt auf Josefines Frage zu antworten, wollte Lieselotte etwas über die Großtante wissen, die sie nur aus Erzählungen kannte.
    Bereitwillig erzählte Josefine von Friedas Garten, ihren vielen Büchern und ihrem Interesse an Gott und der Welt. »Frieda hat jeden Monat ein neues Steckenpferd. Als ich hierher abreiste, hatte sie gerade die Holzschnitzerei für sich entdeckt«, beendete sie lachend ihren Bericht.
    »An Gott und der Welt interessiert – das hört sich sehr nett an«, stellte Lieselotte fest. »Mein Vater hat weder an der Welt noch an mir ein besonders großes Interesse. Das Einzige, was ihn interessiert, ist seine Arbeit. Deshalb kann ich auch tun und lassen, was ich will.« Lieselotte brach einen nackten Zweig von einem Busch ab und zerbröselte ihn in kleine Stücke. »Früher, als Mutter noch lebte, war das anders. Bevor der Hirsch zum Sanatorium umgebaut wurde, war Vater dort auch schon Hausmeister und hatte viel zu tun. Aber abends, nach verrichteter Arbeit, da war er für Mutter und mich da. Er schnitzte mir Holzpferde und baute einen Stall für sie, er spielte mit mir Verstecken und Blindekuh. Und an meinen Geburtstagen richtete er unsere Scheune so her, dass meine Freundinnen und ich von den Strohballen bis nach unten springen konnten.« Lieselotte lächelte.
    Josefine, der beim Wort Scheune ein Schauer über den Rücken gelaufen war, sagte: »Deine Mutter ist gestorben? Das tut mir leid.«
    Lilo nickte. »Vor vier Jahren. Eine Kuh hat sie in den Bauch getreten. Ausgerechnet die Ursel, eigentlich ein braves Vieh. Bei dem Tritt müssen irgendwelche inneren Organe verletzt worden sein, der Arzt konnte nicht sagen, was genau es war. Mutter fehlte fortan der Appetit. Oft hielt sie sich den Bauch und klagte über Schmerzen. Anfangs mühte sie sich noch, ihrer Arbeit, dem Melken der Kühe, dem Füttern der Ziegen und Schafe, nachzugehen, doch eines Tages fanden wir sie ohnmächtig im Ziegenstall. Danach übernahm ich ihre Arbeit. Ein halbes Jahr später war sie tot. Die letzten Wochen waren schrecklich, sie konnte nicht mehr aus ihrem Bett aufstehen!« Lilo holte tief Luft, das Sprechen fiel ihr sichtlich schwer. Mit hängenden Schultern blieb sie stehen.
    Josefine legte ihren schmerzenden rechten Arm um die junge Frau. Sie wusste so gut, wie ihr zumute war!
    »Nach der Beerdigung hat Vater sofort das Vieh verkauft und gesagt, er würde fortan unseren Lebensunterhalt nur noch als Hausmeister verdienen. Deshalb wollte er sich zukünftig nicht mehr allein ums Sanatorium kümmern, sondern auch noch um die Häuser von einigen Sommergästen, so wie Herr Braun einer ist. Sollte er eine Arbeit verlieren, hätte er immer noch eine andere, und das sei wichtig, denn schließlich wolle er, so gut es ging, für mich sorgen.« Erneut hielt Lilo im Laufen inne. »Hört sich sehr fürsorglich an, oder?«
    »Ist es aber nicht?«
    Lilo zuckte mit den Schultern. »Ich sehe aus wie Mutter, weißt du. Er sagt, wenn er mich anschaut, hat er sie als junges Mädchen vor Augen. Und das, so glaube ich, kann er nicht ertragen. Also flüchtet er sich in seine vielen Aufgaben, nur um nicht in meiner Nähe sein zu müssen.« Sie zuckte mit den Schultern. »Ich glaube, er hat noch nicht einmal gemerkt, dass im Herbst meine Schulzeit zu Ende gegangen ist. Meine Schulkameraden haben alle bereits Lehrstellen oder eine Anstellung, zwei Mädchen sind sogar schon verlobt. Nur was mit mir passieren soll, das weiß allein der Himmel.«
    Josefine lachte. »Bei mir ist’s keinen Deut anders, auch ich habe keinen blassen Schimmer, was mich bei meiner Rückkehr erwartet. Wahrscheinlich hat Mutter mir längst irgendwo eine Stelle als Magd besorgt. Sie und

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