Solange am Himmel Sterne stehen
Vielleicht war er hier, irgendwo unter den Tiefen, irgendwo in dieser verschwommenen Welt, die zwischen Leben und Tod zu existieren schien. Sie vermisste es, die Sterne zu sehen, ihre Sterne, und ohne den Himmel, der sie jede Nacht behütete, sie an die Menschen erinnerte, die sie so geliebt hatte, fühlte sie sich kalt und einsam.
Rose war sich sicher, dass sie jetzt auch im Sterben lag; sie begann die Geister ihrer Vergangenheit zu hören. Und daher wusste sie, dass ihr Leben sich seinem Ende neigte, denn sie erkannte die Stimme ihres Bruders Alain, erwachsen und tief jetzt. So hatte sie sich immer vorgestellt, dass er klingen würde, wenn er den Krieg überlebt und die Chance gehabt hätte, zu einem Mann heranzuwachsen.
»Du warst es, die mich gerettet hat, Rose«, wiederholte die ferne Stimme immer und immer wieder in ihrer Muttersprache. » C’est toi qui m’a sauvé, Rose .«
Die Stimme in Roses Kopf schrie: »Ich habe dich nicht gerettet! Ich habe dich sterben lassen! Ich bin ein Feigling!« Aber die Worte kamen ihr nicht über die Lippen, und selbst wenn sie es getan hätten, wusste sie, dass sie in den Tiefen dieser verhüllten Welt verloren wären. Und so lauschte sie, während die Stimme ihres lieben Bruders fortfuhr.
»Du hast mich glauben gelehrt«, flüsterte er immer wieder. »Du musst aufhören, dir selbst Vorwürfe zu machen. Du warst es, die mich gerettet hat, Rose.«
Sie fragte sich, ob das die Absolution war, die sie ihr Leben lang gesucht hatte, obwohl sie sich sicher war, dass sie sie nicht verdient hatte. Oder war es nur eine weitere Folge der Demenz, die, wie sie wusste, an ihrem Verstand nagte? Sie traute ihren eigenen Augen, ihren eigenen Ohren nicht mehr, denn oft entsprach das, was sie sah und hörte, nicht der Wirklichkeit oder der Erinnerung.
Und als er ihr zuzuflüstern begann: »Du musst aufwachen, Rose. Hope und Annie haben vielleicht Jacob Levy gefunden«, da wusste sie, dass sie völlig den Verstand verloren hatte, denn das war einfach unmöglich. Jacob war nicht mehr da. Schon lange nicht mehr. Hope würde ihn niemals kennenlernen. Rose würde ihn niemals wiedersehen.
Wenn es möglich wäre, in diesem tiefen, trüben Meer Tränen zu vergießen, dann hätte Rose geweint.
23
Auf dem Nachhauseweg von Elida und ihrer Großmutter sehe ich, wie Annies Augen im Dunkeln glänzen, wie sich funkelndes Licht in ihnen spiegelt.
»Du musst morgen nach New York fahren, Mom«, sagt sie. »Du musst ihn finden.«
Ich nicke. Die Bäckerei ist montags sowieso geschlossen, und ich weiß, dass ich keinen Augenblick länger warten könnte, selbst wenn sie es nicht wäre. »Wir werden morgen früh losfahren«, sage ich zu Annie. »Gleich nach dem Aufstehen.«
Annie dreht sich zu mir um. »Ich kann nicht mitkommen.« Sie schüttelt kläglich den Kopf. »Ich habe morgen meinen großen Test in Sozialkunde.«
Ich räuspere mich. »Das ist sehr verantwortungsbewusst von dir.« Ich halte kurz inne. »Hast du dafür denn gelernt?«
»Mom!«, sagt Annie. »Na logisch!«
»Gut«, sage ich. »Okay. Dann fahren wir eben am Dienstag nach New York. Kannst du die Schule am Dienstag ausfallen lassen?«
Annie schüttelt den Kopf. »Nein, du musst morgen fahren, Mom.«
Ich werfe einen kurzen Blick auf sie und konzentriere mich dann wieder auf die Straße. »Schatz, es macht mir nichts aus, auf dich zu warten.«
»Nein«, erwidert sie prompt. »Du musst ihn so schnell wie möglich finden. Was, wenn unsere Zeit abläuft und wir es gar nicht wissen?«
»Mamie ist jetzt stabil«, sage ich zu Annie. »Sie wird schon noch durchhalten.«
»Ich bitte dich, Mom«, sagt Annie einen Augenblick später leise. »Das glaubst du doch selbst nicht. Du weißt, dass sie jeden Moment sterben könnte. Deswegen musst du Jacob Levy so schnell wie möglich finden, wenn er irgendwo dort draußen ist.«
»Aber Annie …«, beginne ich.
»Nein, Mom«, sagt sie entschieden, als wäre sie der Elternteil und ich das Kind. »Fahr morgen nach New York. Und bring Jacob Levy mit zurück. Enttäusch Mamie nicht.«
Nachdem wir auf dem Nachhauseweg beim Krankenhaus vorbeigeschaut haben, ein bisschen bei Mamie geblieben sind und ich Annie zu Hause ins Bett verfrachtet habe, sitze ich mit Alain in der Küche, schlürfe koffeinfreien Kaffee und erzähle ihm, was wir von Elida und ihrer Großmutter erfahren haben.
» Besa «, sagt er leise. »Was für ein wunderschönes Konzept. Die Verpflichtung, unseren Mitmenschen zu helfen.« Er
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