Solange am Himmel Sterne stehen
scheint einfach immer größer zu werden. Bis vor Kurzem war meine Großmutter für mich nur eine etwas traurige Frau gewesen, die zufällig aus Frankreich stammte und eine Bäckerei führte. Jetzt, während ich eine Schicht nach der anderen von der Person abtrage, die sie wirklich war, wird mir bewusst, dass ihr Schmerz viel tiefer gegangen sein muss, als ich je begriffen habe. Und sie hat ihr Leben lang einen falschen Schein gewahrt, hat sich in Geheimnisse und Lügen gehüllt.
Jetzt will ich mehr als je zuvor, dass sie wieder aufwacht, damit ich ihr sagen kann, dass sie nicht allein ist, dass ich sie verstehe. Ich will die Geschichte aus ihrem eigenen Mund hören, denn bis jetzt ist so vieles davon Spekulation. Mir wird bewusst, dass ich nicht mehr weiß, woher ich komme. Nicht ein bisschen. Die Familie meines Vaters habe ich nie kennengelernt – ich weiß nicht einmal, wer mein Vater ist –, und jetzt stellt sich auch noch heraus, dass alles, was ich je über die Familie meiner Mutter wusste, eine Lüge war.
»Geht es dir gut?«, fragt Gavin leise. Er hat den Wagen noch nicht angelassen; er sitzt nur neben mir und sieht mich weinen.
»Ich weiß nicht mehr, wer ich bin«, sage ich nach einer Pause.
Er nickt, scheint es zu verstehen. »Aber ich weiß es«, sagt er schlicht. »Du bist Hope. Das ist das Einzige, was wirklich zählt.« Und trotz der lästigen Mittelkonsole zwischen uns im Wagen ist es die natürlichste und tröstlichste Sache der Welt, als er mich in seine Arme zieht und fest an sich drückt.
Schließlich lässt er mich los und murmelt: »Wir sollten sehen, dass wir wieder loskommen, bevor es noch später wird«, und es kommt mir vor, als wären nur ein paar Sekunden verstrichen, obwohl er mich nach der Uhr mehrere Minuten gehalten hat. Es schien mir nicht genug.
Erst als wir wieder auf dem Highway sind und ich ein Tablett mit Bechern an meinem Fenster vorbeifliegen sehe, wird mir klar, dass wir das Essen von dem McDonald’s auf dem Autodach vergessen haben. Das Gelächter zwischen uns löst die traurige Anspannung.
»Äh, ich hatte sowieso keinen Hunger«, sagt Gavin mit einem Blick in den Rückspiegel, wo er, wie ich mir vorstelle, die Reste unseres ungegessenen Frühstücks auf der Straße verstreut liegen sieht.
»Ich auch nicht«, sage ich.
Er lächelt mich an. »Auf nach New York?«
»Auf nach New York.«
Es ist kurz nach zehn, als wir uns durch den Verkehr gekämpft haben und in Manhattan vom FDR Drive in die Houston Street abbiegen. Gavin folgt jetzt seinem GPS , und ich sehe mich um, während er sich kreuz und quer durch die Straßen schlängelt und Fußgängern und haltenden Taxis knapp ausweicht.
»Ich hasse es, in New York Auto zu fahren«, schimpft er, aber er lächelt.
»Du machst das richtig gut«, sage ich. Als ich auf dem College war, habe ich hier einmal ein Ferienpraktikum gemacht, und ich war seitdem ein paarmal wieder in New York gewesen, aber mein letzter Besuch ist über zehn Jahre her, und jetzt kommt mir alles anders vor. Die Stadt sieht sauberer aus, als ich sie in Erinnerung habe.
»Nach dem GPS müssten wir fast da sein«, verkündet Gavin ein paar Minuten später. »Suchen wir uns einfach einen Parkplatz.«
Wir fahren in ein Parkhaus und gehen zum Ausgang. Während Gavin beim Parkhauswächter den Parkschein besorgt, trete ich nervös von einem Fuß auf den anderen. Wir sind nur ein paar Blocks von Jacob Levys letzter bekannter Adresse entfernt. In zehn Minuten könnten wir ihm persönlich gegenüberstehen.
Gavin reicht mir einen Stadtplan, den er aus dem Internet ausgedruckt hat. Ungefähr am südlichen Ende des Battery Place ist ein Stern eingezeichnet, und ich stelle erschrocken fest, wie nah am Ground Zero Jacob wohnt. Ich frage mich, ob er die Tragödie des 11. September selbst miterlebt hat. Ich blinzele ein paarmal und reiße mich zusammen. Ich sehe nach Norden zu der Lücke in der Skyline, wo einmal das World Trade Center stand, und ich verspüre einen schmerzlichen Stich.
»Das war früher meine Lieblingsgegend in der Stadt«, sage ich zu Gavin, als wir losgehen. »Als ich aufs College ging, habe ich hier einen Sommer lang gearbeitet, für eine Kanzlei in Midtown. Am Wochenende bin ich immer mit dem N- oder dem R-Zug zum World Trade Center gefahren, habe mir dort im Food-Court eine Cola geholt und bin dann den Broadway hinunter zum Battery Park gegangen.«
»Wirklich?«
Ich lächele. »Ich habe immer hinüber zur Freiheitsstatue gesehen und
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