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Solange am Himmel Sterne stehen

Solange am Himmel Sterne stehen

Titel: Solange am Himmel Sterne stehen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kristin Harmel
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werden.«
    »Was, wenn er tot ist?«, wage ich zu vermuten. Ich hatte die Möglichkeit nicht in Betracht ziehen wollen, aber es wäre töricht, es nicht zu tun.
    »Elidas Mann hat keine Sterbeurkunde gefunden«, sagt Gavin. »Wir müssen glauben, dass er noch immer irgendwo dort draußen ist.«
    Im Erdgeschoss angekommen, klopft Gavin an die Tür zu Apartment 102. Es kommt keine Antwort, und wir tauschen einen Blick. Gavin klopft noch einmal, diesmal etwas lauter, und ich bin erleichtert, als ich einen Augenblick später Schritte zur Tür kommen höre. Eine Frau mittleren Alters mit Lockenwicklern und in einem Morgenmantel öffnet die Tür.
    »Was?«, fragt sie. »Sagen Sie bloß nicht, dass die Rohrleitungen im achten Stock schon wieder kaputt sind. Ich kenne mich damit nicht aus.«
    »Nein, Ma’am«, sagt Gavin. »Wir suchen den Hausverwalter.«
    Sie schnaubt verächtlich. »Das ist mein Mann, aber der ist praktisch zu nichts zu gebrauchen. Was gibt’s denn?«
    »Wir sind auf der Suche nach dem Mann, der früher in Apartment 1004 gewohnt hat«, sage ich. »Jacob Levy. Wir glauben, dass er vor etwa einem Jahr ausgezogen ist.«
    Sie runzelt die Stirn. »Ja. Ist er. Na und?«
    »Wir müssen ihn finden«, sagt Gavin. »Es ist sehr dringend.«
    Sie kneift die Augen zusammen. »Sind Sie vom Finanzamt oder so?«
    »Was? Nein. Wir sind …« Und dann weiß ich nicht, wie ich weiterreden soll. Wie soll ich ihr sagen, dass ich die Enkelin der Frau bin, die er vor siebzig Jahren geliebt hat? Dass ich vielleicht sogar seine Enkelin sein könnte?
    »Wir sind Verwandte«, flicht Gavin elegant ein. Er weist mit einem Nicken auf mich. »Sie ist seine Verwandte.«
    Bei den Worten verkrampft sich mein Herz.
    Die Frau mustert uns noch einen Augenblick länger und gibt schließlich nach. »Wie Sie meinen. Ich hole Ihnen seine Nachsendeanschrift.«
    Mein Herzschlag beschleunigt sich, während sie zurück in ihre Wohnung schlurft. Gavin und ich tauschen wieder einen Blick, aber ich bin zu aufgeregt, um etwas zu sagen.
    Einen Augenblick später kommt die Frau mit einem Zettel in der Hand wieder. »Jacob Levy. Er ist letztes Jahr gestürzt und hat sich die Hüfte gebrochen«, erzählt sie. »Er hat zwanzig Jahre hier gewohnt, wissen Sie. Aber hier gibt es keinen Aufzug, und als er aus dem Krankenhaus kam, konnte er die Treppe nicht mehr hochsteigen, mit seiner Hüfte und allem, daher hat ihm der Vermieter die freie Wohnung hier unten am Ende des Flurs angeboten. Apartment 101. Aber Mr Levy sagte, er wollte etwas mit Aussicht. Wählerisch, wenn Sie mich fragen. Und dann sind Ende November die Umzugsleute gekommen.«
    Sie reicht mir den Zettel. Darauf steht eine Adresse in der Whitehall Street, zusammen mit einer Wohnungsnummer.
    »Dorthin sollten wir ihm seine Endabrechnung schicken, hat er gesagt«, sagt die Frau. »Ich habe keine Ahnung, ob er noch immer dort wohnt. Aber da ist er von hier hingezogen.«
    »Danke«, sagt Gavin.
    »Danke«, wiederhole ich. Sie will eben schon die Tür schließen, als ich die Hand ausstrecke. »Augenblick«, sage ich. »Eine Frage noch.«
    »Ja?« Sie blickt irritiert.
    »War er verheiratet?« Ich halte den Atem an.
    »Soweit ich weiß, gab es keine Mrs Levy.«
    Ich schließe erleichtert die Augen. »Wie … wie war er denn so?«, frage ich, nachdem ich mich wieder gesammelt habe.
    Sie mustert mich einen Moment misstrauisch, aber dann scheint ihre Miene etwas sanfter zu werden. »Er war nett«, sagt sie schließlich. »Immer richtig höflich. Ein paar andere Mieter hier, die behandeln uns wie Dienstboten, mich und meinen Mann. Aber Mr Levy, der war immer richtig nett. Hat mich immer ›Ma’am‹ genannt. Hat immer ›Bitte‹ und ›Danke‹ gesagt.«
    Darüber muss ich lächeln. »Danke«, sage ich. »Danke, dass Sie mir das gesagt haben.«
    Ich will mich eben schon abwenden, als sie noch einmal das Wort ergreift. »Aber er sah immer irgendwie traurig aus.«
    »Traurig?«, frage ich.
    »Ja. Er ging jeden Tag spazieren, und wenn er abends, nach Einbruch der Dunkelheit, zurückkam, sah er immer aus, als hätte er irgendetwas verloren.«
    »Danke«, flüstere ich. Schmerz durchflutet mich, als wir uns abwenden und hinausgehen. Offenbar war an all den Abenden, die Mamie an ihrem Fenster saß und darauf wartete, dass die Sterne aufgingen, auch Jacob auf der Suche nach etwas.
    Wir brauchen eine Viertelstunde, um nach Osten zur Whitehall Street und dann weiter nach Süden zu laufen, um die Adresse zu finden,

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