Solange am Himmel Sterne stehen
gewesen sein?«
Ich schlucke schwer, während ich auf das Schild starre. Dann schüttele ich den Kopf. »Weißt du was? Nein, das ist doch verrückt. Es ist nur ein Name. Außerdem passt es schon von den Jahren her nicht. Meine Mom wurde 1944 geboren, lange nachdem meine Großmutter Jacob Levy das letzte Mal gesehen hatte. Es kann nicht sein.«
Ich sehe zu Gavin hoch. Ich komme mir albern vor, und ich wundere mich zu sehen, dass er völlig ernst blickt. »Aber was, wenn du recht hast?«, fragt er. »Was, wenn deine Mutter in Wirklichkeit ein Jahr früher geboren wurde? Was, wenn deine Großmutter und dein Großvater jemanden bestochen haben, ihre Geburtsurkunde zu fälschen? Das wäre damals bestimmt nichts Ungewöhnliches gewesen. Es herrschte Krieg. Irgendein kleiner Beamter hätte die Dokumente leicht abändern und die Originale vernichten können. Das war nicht schwer, bevor alles auf Computer umgestellt wurde.«
»Aber warum hätten meine Großeltern das tun sollen?«
»Damit es so aussieht, als wäre dein Großvater der Vater«, sagt Gavin. Er spricht jetzt leise, mit glänzenden Augen. »Damit deine Mom nie auf die Idee kommen würde, es anzuzweifeln. Damit deine Großmutter niemals irgendjemandem das mit Jacob würde erklären müssen. Du hast gesagt, dass sie erst ans Cape gezogen sind, als deine Mutter fünf war. Aber in dem Alter wäre es fast unmöglich zu sagen, ob die beiden um ein Jahr geschummelt hatten, vor allem wenn sie behaupteten, sie sei einfach groß für ihr Alter. Was, wenn sie in Wirklichkeit sechs war?«
Auf einmal bekomme ich kaum noch Luft. »Das kann nicht sein«, flüstere ich. »Meine Mom sah sogar aus wie mein Opa. Glatte braune Haare, braune Augen. Dieselben Gesichtszüge.«
»Braune Haare und braune Augen sind nichts Ungewöhnliches«, betont Gavin. »Und wir wissen ja gar nicht, wie Jacob ausgesehen hat, oder?«
»Ich nehm’s an«, murmele ich.
»Du musst zugeben, wenn deine Mom Jacobs Tochter wäre, dann würde das eine ganze Menge erklären. Zum Beispiel, was aus dem Baby geworden ist. Und warum deine Großmutter so bald eine neue Beziehung eingegangen ist, nachdem sie Jacob verloren hatte.«
»Aber warum ist sie denn so bald eine neue Beziehung eingegangen?«, frage ich. Den Teil verstehe ich einfach nicht.
»Sie muss gedacht haben, dass Jacob bereits tot sei. Vielleicht war dein Großvater ein liebenswerter Mann, der ihr die Chance zum Überleben bot, und die Chance, ihrer Tochter ein echtes Leben zu ermöglichen. Und vielleicht hat sie diese Chance ergriffen, da sie es für das Richtige hielt.«
»Du meinst, sie hat meinen Großvater nie wirklich geliebt?«, frage ich. Bei dem Gedanken geht mir ein Stich durchs Herz. »Dass er nur ein Mittel zum Zweck war?«
»Nein, ich bin mir sicher, sie hat ihn geliebt«, sagt Gavin. »Vielleicht auf eine andere Weise als Jacob. Aber er hat ihr und deiner Mom ein gutes Leben geboten.«
»Die Art Leben, die sich Jacob für die beiden gewünscht hätte«, sage ich.
Gavin nickt. »Ja.«
»Aber wenn das stimmt, was hat mein Opa dann dabei bekommen?«, frage ich, auf einmal überwältigt von Traurigkeit. »Eine Ehefrau, die ihn nie wirklich so liebte, wie er es verdiente?«
»Vielleicht hat er die ganze Zeit gewusst, dass es so sein würde«, sagt Gavin, »und sie genug geliebt, dass es keine Rolle spielte. Vielleicht hat er gehofft, sie würde schon noch zu sich kommen. Vielleicht war es ihm aber auch genug, sie einfach bei sich zu haben, zu wissen, dass er sie beschützte, und ihrem Kind ein Vater zu sein.«
Ich wende den Blick ab. Ich wünschte, ich könnte meinen Großvater fragen, was er dabei empfand, wie er das alles für sich begründete, falls Gavin recht hat. Aber er ist schon lange tot. Ich frage mich, ob die Antworten und die Geheimnisse, die die beiden gehütet haben, für immer begraben bleiben werden. Ich weiß, dass sie es bleiben werden, wenn Mamie nicht mehr aufwacht. Und selbst wenn sie wieder aufwacht, gibt es keine Garantie, dass sie sich an irgendetwas erinnert.
»Meinst du, meine Mom hat es je erfahren?«, frage ich. » Falls es stimmt«, füge ich rasch hinzu.
»Ich würde fast wetten, dass sie es nicht erfahren hat«, sagt Gavin leise. »Es klingt, als ob deine Großmutter das alles vielleicht einfach für immer hinter sich lassen wollte.«
Als wir wieder in den Wagen steigen, wird mir bewusst, dass ich weine. Ich bin mir nicht sicher, wann ich damit angefangen habe, aber das Loch in meinem Herzen
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