Solange am Himmel Sterne stehen
der Prinz sagte der Prinzessin, sie müsse tapfer und stark sein, und sie müsse das Richtige tun, selbst wenn es schwierig sei.«
»Genau das sagst du mir auch immer, Mamie!«, unterbrach Hope sie. »Das Richtige tun! Selbst wenn es schwer ist!«
Rose nickte. »So ist es. Du musst immer das Richtige tun. Der Prinz sagte der Prinzessin, er müsse sie retten, das sei das Richtige. Aber um sie zu retten, musste er sie weit, weit weg zu den Küsten eines Märchenreichs schicken. Nun, die Prinzessin war noch nie in diesem Märchenreich gewesen, denn es lag weit, weit weg auf der anderen Seite des großen Meeres, aber sie hatte schon oft davon geträumt. Sie wusste, dass in diesem großen Königreich eine Königin herrschte, die ihr Licht über die ganze Welt scheinen ließ.«
»Sogar nachts?«, fragte Hope, obwohl sie die Geschichte schon hundertmal gehört hatte.
»Sogar nachts«, versicherte Rose ihr.
»Wie ein Nachtlicht«, sagte Hope.
»Ja, ungefähr so wie ein Nachtlicht«, sagte Rose lächelnd. »Denn das Licht sorgte dafür, dass sich alle sicher fühlten. Genau wie dein Nachtlicht dafür sorgt, dass du dich sicher fühlst.«
»Die Königin klingt nett.«
»Sie war eine sehr freundliche Königin«, versicherte Rose ihrer Enkelin. »Sehr gut und gerecht. Die Prinzessin wusste: Wenn sie es ins Reich dieser Königin schaffte, dann wäre sie in Sicherheit, und eines Tages würde der Prinz kommen und sie dort finden.«
»Weil er es versprochen hat«, sagte Hope.
»Ja, weil er es versprochen hat«, sagte Rose leise. »Er hat versprochen, sie genau diesseits des Burggrabens gegenüber dem großen Thron der Königin zu treffen, wo das Licht hinunterschien. Und so fuhr die Prinzessin übers Meer zu diesem Reich der weisen Königin. Dort war sie endlich in Sicherheit. Und während die Prinzessin auf den Prinzen wartete, begegnete sie einem starken und freundlichen Zauberer, der sie als Prinzessin erkannte, obwohl sie wie eine Bettlerin gekleidet war. Er sagte der Prinzessin, dass er sie liebte und dass er sie bis ans Ende seiner Tage beschützen würde.«
»Aber was ist mit dem Prinzen?«, fragte Hope. »Kommt der Prinz?«
Rose wusste, dass sie diese Frage erwarten musste, denn Hope stellte sie jedes Mal. Hope wuchs in einem Land auf, in dem man an ein glückliches Ende glaubte. Und mit fünf war sie bei Weitem zu jung, um zu lernen, dass es ein glückliches Ende nur im Märchen gab. Aber das hier war ein Märchen, rief sich Rose in Erinnerung. Und so beantwortete sie die Frage auf die einzige Weise, auf die sie es konnte, denn hin und wieder musste sie selbst auch an Märchen glauben.
»Ja, Liebes«, sagte Rose, während sie Tränen wegblinzelte und ihre Enkelin fest an sich drückte. »Der Prinz kommt. Eines Tages wird die Prinzessin ihn wiedersehen.«
26
»Wohin gehen wir?«, fragt Gavin, während er mir auf die Straße folgt. Ich sprinte so schnell die Whitehall Street hinunter, dass ich neugierige Blicke von Passanten auf mich ziehe. Ein Paar – Touristen mit »I Love New York«-T-Shirts und Kameras um den Hals – zeigt auf mich und beginnt, Fotos zu machen. Ich ignoriere sie alle und schieße nach rechts die State Street hinunter. Gavin holt mich ein. »Hope, was hast du vor?«
»Jacob ist im Battery Park«, sage ich, ohne mein Tempo zu verlangsamen. Wir kommen rechts an einem Backsteingebäude im Kolonialstil vorbei, und mir fällt auf, dass es eine katholische Kirche ist. Einen Moment lang frage ich mich, ob Jacob sich hätte vorstellen können, dass Mamie in die Haut einer Muslimin und dann einer Katholikin geschlüpft ist, dass all ihre Vorstellungen von Gott zu einem einzigen verworrenen, wunderschönen Bild verknüpft wurden.
»Woher weißt du, dass er dort ist?«, fragt Gavin. Wir bleiben stehen und lassen den Verkehr vorbei, bevor wir über die State Street in den leuchtend grünen Battery Park laufen.
»Es kam in den Geschichten meiner Großmutter vor«, sage ich. Ich will am liebsten sofort über die Straße rennen, aber Gavin, der das vielleicht spürt, legt mir eine Hand auf den Arm, bis eine Lücke im Verkehr entsteht.
Er blickt verwirrt, aber er führt mich über die Straße, und dann lässt er sich zurückfallen und folgt mir, während wir an bummelnden Touristen, Zeichenkünstlern und Imbissverkäufern vorbeihasten, auf das schwere, schwarze Schutzgeländer zu, das den Rand der Insel vom Wasser trennt. Ich lege die Hände auf das kalte Metall und starre über das kabbelige
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