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Solange am Himmel Sterne stehen

Solange am Himmel Sterne stehen

Titel: Solange am Himmel Sterne stehen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kristin Harmel
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Hafenwasser auf die Freiheitsstatue, die nach Südosten, zur Einfahrt in den Hafen von New York, blickt. Ihres muss das erste Gesicht gewesen sein, das die Einwanderer erblickten, während die Insel Manhattan langsam in Sicht kam.
    »Jacob war die ganze Zeit in den Geschichten meiner Großmutter«, murmele ich, während ich auf die Königin mit ihrer Fackel starre, dieselbe, auf die ich während meines Sommers in New York an so vielen Nachmittagen starrte, ohne je zu begreifen, dass ich sie aus Mamies Geschichten wiedererkennen sollte.
    Ich reiße mich vom Anblick der Freiheitsstatue los und suche das Geländer ab, erst links und dann rechts hinunter. Auf dem Gehsteig wimmelt es von Touristen, selbst an diesem kühlen Herbsttag, an dem der Wind vom Wasser herüberpeitscht. Für einen Moment droht mich der Mut zu verlassen. Vielleicht ist es aussichtslos, ihn in diesem Meer von Menschen zu finden.
    Gavin sagt nichts; er scheint zu begreifen, dass ich in meiner eigenen Welt verloren bin. Aber als ich leicht panisch bei dem Gedanken werde, ich könnte mich täuschen, spüre ich, wie sich seine Hand sanft um meine legt, und ich halte sie mit einer Entschlossenheit, die mich selbst verblüfft. Ich will nicht, dass er loslässt.
    Ich will eben schon zugeben, dass ich mich vielleicht getäuscht habe, als ich ihn sehe. Ohne Gavins Hand loszulassen, bewege ich mich nach rechts, an der Reihe von Bänken und dem schimmernden Geländer entlang. Ich weiß nicht, warum ich auf einmal so überzeugt bin, dass er es ist, dass es Jacob ist, aber ich bin mir sicher, noch bevor ich sein Gesicht sehe. Ein Gehstock lehnt neben ihm, und er trommelt rhythmisch mit den Fingern der linken Hand auf das Geländer, genau wie es meine Tochter oft geistesabwesend tut. »Das ist er«, sage ich zu Gavin.
    Der Mann sitzt der Freiheitsstatue zugewandt da, starrt sie an, als könnte er sich nicht von ihrem Anblick losreißen. Sein Haar ist schlohweiß, auf dem Kopf etwas schütter, und er trägt einen langen, dunklen Mantel, der in meinen Augen irgendwie majestätisch aussieht. »Der Prinz«, murmele ich, mehr zu mir selbst als an Gavin gewandt. Als wir nur noch wenige Schritte von ihm entfernt sind, wendet er sich auf einmal um und sieht mich genau an, und in diesem Augenblick lösen sich alle noch verbliebenen Zweifel in Luft auf. Er ist es.
    Er erstarrt, und der Mund steht ihm ein klein wenig offen. Ich erstarre ebenfalls, und wir sehen uns völlig gebannt an. Er sieht genauso aus wie Annie; all ihre Züge, deren Abstammung Rob einmal infrage gestellt hat, spiegeln sich in seinem Gesicht. Dieselbe schmale, leicht gekrümmte Nase. Dasselbe Grübchen im Kinn. Dieselbe hohe, vornehme Stirn. Und während wir einander anstarren, bemerke ich noch etwas: Hinter seiner dunkel umrandeten Brille hat er meine Augen, die meergrünen, golden gesprenkelten Augen, von denen Mamie mir immer sagte, dass sie sie von allen Dingen auf der Welt am liebsten ansah.
    »Jacob Levy«, sage ich leise, und es ist eine Feststellung, keine Frage, denn ich weiß es bereits. Neben mir kann ich spüren, wie sich Gavins Griff um meine Hand verstärkt, und ich weiß, dass er, eine Minute später als ich, erkennt, wie sehr Jacob meiner Tochter ähnelt und was das zu bedeuten hat.
    Jacob nickt langsam, starrt mich noch immer an.
    »Ich bin Hope«, sage ich sanft zu ihm. Ich trete einen Schritt näher. »Roses Enkelin.«
    Tränen treten ihm in die Augen. »Sie hat überlebt«, murmelt er. Ich nicke langsam, und Jacob tritt näher, den Blick fest auf mich geheftet. Ich entziehe meine Hand Gavins Griff und gehe auf Jacob zu, bis wir nur noch einen Schritt voneinander entfernt sind. Er streckt langsam, zögernd eine Hand aus, um mein Gesicht zu berühren. Ich trete noch näher, bis ich seine Hand auf meiner Wange spüre, rau und knotig, aber sanfter als alles, was ich je gespürt habe. »Sie hat überlebt«, sagt er noch einmal.
    Und dann hat er die Arme um mich geschlungen, und ich spüre, wie er zittert, während er zu schluchzen beginnt. Ich erwidere seine Umarmung, und jetzt merke ich, wie mir selbst die Tränen kommen. Ich habe das Gefühl, ein Stück Vergangenheit in den Armen zu halten, das eine Stück, das alles vervollständigt. Ich halte die große Liebe meiner Großmutter in den Armen, siebzig Jahre zu spät. Und wenn ich nicht völlig den Verstand verloren habe, wenn ich mir die Züge meiner Tochter und meine eigenen Augen bei diesem Mann nicht nur eingebildet habe, dann halte

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