Solange am Himmel Sterne stehen
Hope,
während ich heute hier sitze, um dir zu schreiben, weiß ich, dass das meine letzte Chance auf geistige Klarheit sein könnte. Ich weiß, dass meine Tage gezählt sind. Du wirst diesen Brief erhalten, wenn ich nicht mehr bin, und du sollst wissen, dass ich bereit war. Mein Leben war lang, und vieles davon war wundervoll. Aber in der Dämmerung meines Lebens hat mich die Vergangenheit eingeholt, und ich kann sie nicht länger ertragen.
Falls ich es schaffe, bei klarem Verstand zu bleiben, werde ich dir heute Abend die Liste mit Namen geben, die in meinem Herzen eingebrannt sind und am Himmel geschrieben stehen. Bis du diesen Brief liest, wirst du daher wissen, dass der Großteil meines Lebens eine Lüge war. Aber es war eine Lüge, die ich leben musste. Zuerst, um deine Mutter zu schützen, und später, um mich selbst zu schützen.
Ich weiß nicht, ob du die Wahrheit von allein herausfinden wirst. Ich hoffe es. Du hast es verdient, sie zu kennen, und ich hätte sie dir schon längst erzählen sollen. Ich wusste, dass ich das Versprechen, das ich deinem Großvater gegeben habe, nur halten musste, solange er am Leben war, aber dir oder deiner Mutter später davon zu erzählen, wäre mir dennoch wie ein schwerer Verrat an ihm vorgekommen. Denn er war ein wundervoller Mann, ein guter Ehemann, ein liebevoller Vater und Großvater. Ich will ihn nicht verraten. Aber in diesen letzten Monaten, während mich immer mehr von der Vergangenheit in der Dunkelheit meiner Erinnerungen aufsucht, habe ich begriffen, dass ich meine Geheimnisse nicht mit ins Grab nehmen darf. Du verdienst zu wissen, wer ich bin und wer du bist.
Ich bin ein Feigling. Das ist das Erste, was du wissen musst. Ich bin ein Feigling, weil ich vor der Vergangenheit davongelaufen bin. Es erforderte weniger Mut, eine neue Person zu werden, als mich den Verfehlungen der Person, die ich einmal war, zu stellen. Ich bin ein Feigling, da ich beschloss, mich selbst in diesem neuen Leben zu verlieren.
Wenn du nach Paris gefahren bist, dann weißt du inzwischen, dass ich eine Picard bin. Das ist meine Familie. Ich bin in einem progressiven jüdischen Elternhaus aufgewachsen. Mein Vater war Arzt. Meine Mutter war eine polnische Einwanderin, deren Eltern eine Bäckerei führten, so wie du jetzt. Ich hatte zwei Schwestern und drei Brüder. Sie sind alle umgekommen. Alle. Ich habe mich damit abgefunden, aber ich gebe mir die Schuld daran, sie nicht gerettet zu haben. Diese Schuld trage ich jeden Tag mit mir herum.
Außerdem gibt es einen Mann, von dem du wissen musst, einen Mann namens Jacob Levy. Ich habe diesen Namen seit 1949 nicht mehr laut ausgesprochen, seit dem Jahr, in dem dein Großvater zurückkehrte, um mir zu sagen, dass Jacob in Auschwitz ermordet worden ist. Seitdem habe ich jede Nacht den Himmel nach ihm abgesucht. Aber ich kann ihn nicht finden.
Jacob, meine liebe Hope, war meine große Liebe. Ich habe auch deinen Großvater geliebt; ich will nicht, dass du das auch nur einen Augenblick bezweifelst. Aber ich glaube, dass wir im Leben nur eine wirklich große Liebe haben können, und Jacob war meine. Die meisten Leute finden nicht einmal das. Und je älter ich wurde, desto klarer wurde mir, dass ich, indem ich mein eigenes Herz verschlossen habe, dir vielleicht die Chance genommen habe, diese Art Liebe zu finden, genau wie ich deiner Mutter diese Chance genommen habe. Wenn einem niemand beibringt, wie man lieben soll, dann ist es schwer, von selbst darauf zu kommen. Lass das nicht mein Vermächtnis an dich sein.
Ich weiß, dass ich alles falsch gemacht habe. Ich habe mein Herz verschlossen, nachdem ich erfahren hatte, dass Jacob nicht mehr war, und ich wusste nicht, wie ich es wieder öffnen sollte. Vielleicht wollte ich es auch gar nicht. Aber das war der Grund, weshalb ich deine Mutter nicht auf die richtige Art geliebt habe. Das hat den Verlauf ihres Lebens verändert – und den Verlauf deines Lebens. Ich kann dir gar nicht sagen, wie leid mir das tut. Ich habe euch beide enttäuscht. Ich kann nur hoffen, dass es nicht zu spät für dich ist, diese Fehler in deinem eigenen Leben zu korrigieren.
Jacob ist gestorben, bevor er die Chance hatte, deine Mutter oder dich oder Annie kennenzulernen, und dadurch, glaube ich, wurden wir alle vom Schicksal betrogen. Deine Mutter, verstehst du, war seine Tochter. Du bist seine Enkelin. Ted, den du immer als deinen Großvater kanntest, hat es die ganze Zeit gewusst und euch beide als sein eigen Fleisch
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