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Solange am Himmel Sterne stehen

Solange am Himmel Sterne stehen

Titel: Solange am Himmel Sterne stehen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kristin Harmel
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die Matt Hines so gern isst. Schichte die Baklava übereinander und schiebe sie in Ofen 2. Gebe den angewärmten Frischkäse für den Zitronen-Trauben-Käsekuchen in meinen zweiten Teigmixer. Falte die Croissantblätter um kleine Quadrate aus dunkler französischer Schokolade für die pains au chocolat . Flechte die langen Zöpfe ganzer Challah-Weizenlaibe, bestreue sie mit Rosinen und stelle sie zum Aufgehen beiseite.
    Mit dir ist alles in Ordnung, Liebes , hatte Mamie gesagt, aber was weiß sie schon? Ihr Gedächtnis ist fast verschwunden, ihr Verstand völlig durcheinander. Und doch gibt es Zeiten, zu denen ihre Augen so klar wie eh und je blicken, zu denen ich mir sicher bin, dass sie mir genau in die Seele sieht. Auch wenn ich nie bezweifelt habe, dass sie und mein Großvater sich geliebt haben, schien ihre Beziehung stets doch eher auf Vernunft als auf Romantik zu beruhen. Hatte ich dasselbe mit Rob gehabt, und hatte ich es aufgegeben, weil ich glaubte, dass es dort draußen noch mehr gab? Vielleicht war ich eine Närrin gewesen. Das Leben ist kein Märchen.
    Die Zeitschaltuhr an Ofen 1 geht los, und ich lege die Baisers auf ein Abkühlgitter. Ich schalte den Ofen wieder ein, um die pains au chocolat hineinzuschieben. Ich habe angefangen, morgens eine doppelte Portion davon zu machen; sie gehen schneller weg jetzt, wo es Herbst ist und die Luft kühler. Unsere Obstkuchen und -törtchen sind in den Frühjahrs- und Sommermonaten beliebter, aber die schwereren, süßeren Backwaren scheinen den Leuten Trost zu spenden, wenn der Winter naht.
    Als ich acht war fing ich an, Mamie in der Bäckerei zu helfen, so wie Annie jetzt mir hilft. Jeden Morgen, kurz bevor die Sonne aufging, hielt Mamie mit dem inne, was sie tat, und führte mich an das Seitenfenster, das genau nach Osten hinausging, auf die gewundene Schleife der Main Street. Wir sahen schweigend zum Horizont, bis der Morgen dämmerte, und dann gingen wir zurück und machten uns wieder ans Backen.
    »Was siehst du dir da immer an, Mamie?«, hatte ich sie eines Morgens gefragt.
    »Ich sehe mir den Himmel an, Liebes«, hatte sie gesagt.
    »Ich weiß. Aber warum?«
    Sie hatte mich an sich gezogen, hatte mich fest an ihre verwaschene rosa Schürze gedrückt, die sie trug, seit ich mich erinnern konnte. Es machte mir ein bisschen Angst, wie fest sie mich drückte.
    » Chérie , ich sehe zu, wie die Sterne verschwinden«, sagte sie einen Augenblick später.
    »Warum?«, fragte ich.
    »Weil sie, auch wenn du sie nicht sehen kannst, immer da sind«, sagte sie. »Sie verstecken sich nur hinter der Sonne.«
    »Und?«, fragte ich zaghaft.
    Sie entließ mich aus ihrer Umarmung und beugte sich herab, um mir in die Augen zu sehen. »Weil es, Liebes, gut ist, sich zu erinnern, dass man etwas nicht immer sehen muss, um zu wissen, dass es da ist.«
    Fast drei Jahrzehnte später klingen Mamies Worte noch immer in meinem Kopf nach, als ich vom Türrahmen der Backstube Annies Stimme höre, die mich aus meiner Träumerei reißt.
    »Warum weinst du denn?«, fragt sie.
    Als ich aufsehe, stelle ich verblüfft fest, dass sie recht hat, dass mir tatsächlich Tränen über die Wangen rinnen. Ich wische sie mit dem Handrücken weg, schmiere mir dabei nassen, klebrigen Teig übers Gesicht und zwinge mich zu einem Lächeln.
    »Ich weine doch gar nicht«, sage ich.
    »Du musst nicht lügen oder so.«
    Ich seufze. »Ich habe nur eben an Mamie gedacht.«
    Annie verdreht die Augen und schneidet eine Grimasse. »Na toll, auf einmal beschließt du, ein paar Gefühle zu zeigen.« Sie wirft ihren Rucksack in die Ecke, wo er mit einem dumpfen Aufschlag landet.
    »Was soll das denn heißen?«, frage ich.
    »Das weißt du schon selbst«, sagt sie. Sie krempelt die Ärmel ihres langärmeligen rosa Hemds hoch und schnappt sich eine Schürze von einem Haken an der Wand, gleich links neben den Gestellen, auf denen ich die Bleche aufbewahre.
    »Nein, das weiß ich nicht «, sage ich zu ihr. Ich halte mit dem inne, was ich tue, und sehe zu, wie sie eine Schachtel Eier und vier Stück Butter aus dem Edelstahlkühlschrank nimmt und sich einen Messbecher schnappt. Sie bewegt sich ebenso gewandt in der Küche, wie es Mamie früher getan hat.
    Annie gibt keine Antwort, bis sie die Butter im Standmixer schaumig geschlagen, vier Tassen Zucker dazugegeben und die Eier nacheinander aufgeschlagen und untergerührt hat. »Also, wenn du zu irgendwelchen Gefühlen fähig gewesen wärst, als du mit Dad verheiratet warst,

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