Solange am Himmel Sterne stehen
wäre es erst gestern gewesen. Aber jetzt fühlte sich ihr Körper an wie ein Sack Knochen, den sie mühsam überall mitschleppen musste, wohin sie ging.
An der Tür angekommen, starrte sie in das Gesicht der freundlichen Schwester, an deren Namen sie sich nie erinnern konnte. Aber sie hatte ein Gesicht, dem man vertrauen konnte, das wusste Rose.
»Hi, Rose«, sagte die Schwester in einem sanften Ton, der Rose in Erinnerung rief, dass die Leute hier Mitleid mit ihr empfanden. Sie wollte ihr Mitleid nicht. Sie hatte es nicht verdient. »Kommen Sie zum Abendessen herunter? Die anderen drei Damen an Ihrem Tisch vermissen Sie im Speisesaal.«
Rose wusste, dass das nicht stimmte. Sie konnte sich beim besten Willen nicht an die Namen oder auch nur die Gesichter der drei Frauen erinnern, in deren Gesellschaft sie drei Mahlzeiten täglich einnahm.
»Nein, ich werde hierbleiben«, sagte Rose zu der Schwester. »Vielen Dank.«
»Soll ich Ihnen ein Tablett auf Ihr Zimmer bringen?«, fragte die Schwester. »Heute Abend gibt es Hackbraten.«
»Das wäre schön«, antwortete Rose.
Die Schwester zögerte. »Sie hatten heute Besuch von Ihrer Enkelin?«
Rose versuchte angestrengt, sich zu erinnern. »Aber ja, das hatte ich«, beeilte sie sich zu sagen, denn die Schwester schien sich sicher zu sein, und sie wollte natürlich nicht, dass irgendjemand erfuhr, dass sie dabei war, ihr Gedächtnis zu verlieren.
Die Schwester schien sich über Roses Antwort zu freuen, und einen Moment lang hatte Rose ein etwas schlechtes Gewissen, sie so zu täuschen.
»Das ist ja schön«, sagte die Schwester. »Sie kommt in letzter Zeit öfter. Das ist doch wunderbar.«
»Ja, natürlich«, stimmte Rose ihr zu, während sie sich fragte, wann ihre Enkelin hier gewesen war. Die Schwester hatte keinen Grund, sie zu belügen, und sie verspürte ein plötzliches, schmerzliches Bedauern darüber, dass sie sich die Besuche nicht ins Gedächtnis rufen konnte. Sie hätte sich so gern an einen Besuch von Hope erinnert.
Die Schwester klopfte Rose leicht auf die Schulter und fuhr in demselben sanften Ton fort: »Es klingt, als plane sie eine aufregende Reise.«
»Eine Reise?«, fragte Rose.
»Aber ja, hat sie Ihnen das nicht erzählt?« Die Miene der Schwester hellte sich auf. »Sie fährt nach Paris.«
Und mit einem Mal erinnerte sich Rose. Hope, die zu Besuch gekommen war. Annies Verwirrung, als Rose Hope Anfang der Woche die Namensliste gegeben hatte. Die Sorge, die sich erst heute Nachmittag auf Hopes Zügen abgezeichnet hatte. Sie schloss für einen Moment die Augen, überwältigt von den Erkenntnissen, bis sie aus weiter Ferne die Stimme der Schwester hörte, die sie zurückrief.
»Rose? Mrs McKenna? Geht es Ihnen nicht gut?«
Rose zwang sich, die Augen aufzuschlagen, und täuschte ein Lächeln vor. Im Laufe der Jahre hatte sie ein Geschick dafür entwickelt, sich glücklich zu stellen. Es war, dachte sie, ein entsetzliches Talent.
»Entschuldigung«, sagte Rose. »Ich habe nur eben an meine Enkelin und ihre Reise gedacht.«
Die Schwester blickte erleichtert. Rose wusste, dass die tatsächliche Erklärung – dass sie nämlich in Gedanken auf einmal wieder im Jahr 1942 war – die Frau erschrecken würde, deren sanfte Augen verrieten, dass sie nie die Art Verlust erleiden musste, die die eigene Seele für immer zerrüttete. Rose erkannte diese Art Verlust bei anderen Menschen, denn sie sah sie jedes Mal in ihren eigenen Augen, wenn sie ihr Spiegelbild betrachtete.
Die Schwester ging, um ein Tablett mit Essen vorzubereiten, und Rose schloss hinter ihr die Tür und schlurfte wieder ans Fenster. Sie starrte zum östlichen Himmel, der von den ersten Sternen der Abenddämmerung gesprenkelt war, aber jetzt sah der Himmel für sie anders aus als noch vorhin. Hinter der Dunkelheit des Horizonts, jenseits des riesigen Ozeans, irgendwo im Osten, lag Paris, die Stadt, in der alles begonnen hatte, die Stadt, in der alles enden würde. Rose würde niemals dorthin zurückkehren, aber sie wusste, dass Hope hinfahren musste, damit die Vergangenheit abgeschlossen werden konnte.
Rose war sich bewusst, dass das Ende nahte. Sie spürte es instinktiv, genau wie sie es in jenem Sommer des Jahres 1942 gespürt hatte, bevor sie kamen. Als sie gegen Ende jenes Jahres die Küste Amerikas erreichte und an der Freiheitsstatue vorbei in New York einfuhr, hatte sie sich geschworen, die Vergangenheit für immer hinter sich zu lassen. Aber die Alzheimerkrankheit, die an
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