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Solange am Himmel Sterne stehen

Solange am Himmel Sterne stehen

Titel: Solange am Himmel Sterne stehen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kristin Harmel
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ihrem Gehirn nagte und ihre zeitliche Orientierung verzerrte, hatte sie tobend zurückgebracht, ohne dass sie es gewollt hatte.
    Jetzt fiel es Rose jeden Morgen beim Aufwachen schwer, an der Gegenwart festzuhalten. An manchen Tagen erwachte sie wieder im Jahr 1936 oder 1940 oder 1942. Dinge waren ihr so bewusst, als wären sie eben erst geschehen, und zu seltenen, in der Zeit erstarrten Augenblicken lag ihr Leben vor ihr anstatt hinter ihr. Sie stellte sich vor, diese Augenblicke in der wunderschönen Schmuckschatulle zu verstecken, die ihre eigene mamie ihr zu ihrem dreizehnten Geburtstag geschenkt hatte, das Schloss abzuschließen und den Schlüssel in die unendlichen Tiefen der Seine zu werfen.
    Aber jetzt, da die Gegenwart schwankend und verschwommen war, schien es Rose, als würde diese wunderschöne Schatulle voller Erinnerungen, die seit fast siebzig Jahren verschlossen war, die einzigen Momente der Klarheit enthalten, die sie in diesem Leben finden konnte. Manchmal fragte sie sich, ob das willkürliche Vergessen erst dafür gesorgt hatte, dass die Erinnerungen völlig intakt überlebt hatten, so wie ein Dokument dadurch, dass man es jahrelang in einem luftdichten, dunklen Behälter aufbewahrt, nicht zerfällt.
    Zu ihrer Verblüffung stellte Rose fest, dass sie Trost in den Augenblicken fand, vor denen sie sich so viele Jahre versteckt hatte. In die Vergangenheit zu entgleiten war, als würde sie sich in Zeitlupe den Film ihres Lebens ansehen, das sie, wie sie wusste, bald hinter sich lassen würde. Und dank der Lücken in ihren Erinnerungen gab es Tage, an denen sie sich in der Vergangenheit aalen konnte, ohne prompt den erdrückenden Schmerz ihres unvermeidlichen Endes zu spüren.
    Sie liebte es, auf diesen kurzen Ausflügen in die Vergangenheit ihre Mutter, ihren Vater, ihre Schwestern und ihre Brüder zu sehen. Sie liebte es, die Hand ihrer mamie um ihre eigene zu spüren; sie liebte es, das helle Lachen ihrer kleinen Schwester zu hören; sie liebte es, den süßen, überwältigenden Duft der Bäckerei ihrer Großeltern einzuatmen. Jetzt lebte sie für die Tage, an denen sie zurück in die Vergangenheit schlüpfen und die Menschen sehen konnte, von denen sie, das hatte sie sich geschworen, nie wieder sprechen würde. Denn dort war ihr Herz geblieben; dort hatte sie es zurückgelassen, an jenen fernen Küsten, vor so langer Zeit.
    Während ihre eigene Dämmerung sich um sie schloss, erkannte sie, dass es grundfalsch von ihr gewesen war, die Vergangenheit so unbedingt vergessen zu wollen, denn sie war der Schlüssel zu der Person, die sie war. Aber es war zu spät. Sie hatte alles in dieser schrecklichen, schönen Vergangenheit zurückgelassen. Und dort würde es für immer bleiben.

11
    Als ich an jenem Abend schweigend nach Hause fahre, dreht sich mir der Kopf. Ich fahre nach Paris .
    An der Ampel in der Main Street zücke ich mein Handy und wähle Gavins Handynummer, bevor ich es mir anders überlegen kann.
    Ich lasse es einmal klingeln, bevor mir klar wird, wie albern ich mich benehme. Ich drücke rasch auf Beenden. Warum sollte es Gavin kümmern, dass ich nach Paris fahre? Er hat mir geholfen, aber es wäre anmaßend von mir zu glauben, dass meine Pläne ihn überhaupt interessieren.
    Die Ampel springt auf Grün um, und als ich aufs Gaspedal trete, klingelt mein Handy und erschreckt mich. Ich werfe einen Blick auf das Display und spüre sofort, wie mir die Hitze in die Wangen steigt, als ich Gavin Keyes sehe.
    »Äh, hallo?«, sage ich zögernd.
    »Hope?« Seine Stimme ist tief und warm, und ich ärgere mich über mich selbst, dass ich mich davon prompt getröstet fühle.
    »Äh, ja, hi«, sage ich.
    »Hast du mich eben angerufen?«
    »Es war nichts.« Ich kann spüren, wie meine Wangen noch heißer werden. »Ich weiß nicht einmal, warum ich angerufen habe«, murmele ich.
    Er schweigt einen Augenblick. »Hast du deine Großmutter besucht?«
    »Woher weißt du das?«
    »Ich wusste es nicht.« Er schweigt kurz und fragt dann: »Fährst du nach Paris?«
    »Ich denke schon«, antworte ich leise.
    »Gut«, sagt er prompt, als hätte er genau das von mir erwartet. »Hör zu, falls du jemanden brauchst, der dir hilft, die Bäckerei am Laufen zu halten, solange du weg bist …«
    Ich schneide ihm das Wort ab. »Gavin, das ist wirklich lieb von dir, aber das würde unmöglich klappen.«
    »Warum denn nicht?«
    »Na ja, zum einen hast du noch nie eine Bäckerei geführt, oder?«
    »Ich lerne schnell.«
    Ich

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