Solange am Himmel Sterne stehen
quietschenden Reifen vor einem weißen Gebäude, das von großen Blockbuchstaben zum Hôtel de Mille Étoiles erklärt wird. Ich sehe zu den schmiedeeisernen Balkonen vor den bodentiefen Fenstern im ersten Stock hoch, und ich lächele. Irgendwie ist Paris genau so, wie ich es mir vorgestellt habe. Außerdem habe ich das Gefühl, dass sich zumindest in diesem Viertel im letzten Jahrhundert nicht viel verändert hat. Ich frage mich, ob Mamie vielleicht an demselben Gebäude vorbeigelaufen ist, dieselben Balkone bewundert und sich gewünscht hat, sie könnte durch die hauchzarten Vorhänge hinter dieselben bodentiefen Fenster sehen. Es ist seltsam, sie sich hier vorzustellen, als ein Mädchen, das kaum älter als Annie ist.
Nachdem ich eingecheckt habe, dusche ich rasch und schlüpfe in Jeans, flache Stiefel und einen Pullover. Ausgestattet mit der Wegbeschreibung des Concierge, gehe ich die paar Blocks in Richtung Rue Geoffroy-l’Asnier, in der sich das Mémorial de la Shoah befindet.
Paris im Oktober ist klar und wunderschön, wird mir bewusst. Natürlich, ich bin noch nie hier gewesen, daher fehlt mir der Vergleich, aber die Straßen scheinen still und friedlich. Ich bin fasziniert davon, wie sich Alt und Neu hier mischen: An manchen Ecken trifft Kopfsteinpflaster auf Zement; an anderen verkaufen Läden Elektrogeräte oder die neueste Mode in Gebäuden, die aussehen, als wären sie hunderte von Jahren alt. Da ich fast mein ganzes Leben in Massachusetts verbracht habe, bin ich es gewohnt, dass die Geschichte ganz natürlich mit dem modernen Leben verwoben ist. Aber hier fühlt es sich doch anders an, vielleicht, weil die Geschichte so viel älter ist, oder vielleicht, weil es so viel mehr davon gibt.
Ich rieche backendes Brot, sich färbendes Herbstlaub und einen schwachen Geruch von Feuer, während ich durch die Straßen gehe, und ich atme tief durch, denn es ist eine Mischung, die ich nicht gewohnt bin. Kleine Torbögen, Fahrräder, die an Steinmauern lehnen, und fast versteckte, umzäunte Gärten rufen mir in Erinnerung, dass ich an einem Ort bin, der mir fremd ist, aber irgendetwas an Paris kommt mir dennoch sehr vertraut vor. Zum ersten Mal frage ich mich, ob ein Ortsgefühl über das Blut vererbt werden kann. Ich lasse den Gedanken fallen, aber obwohl die Straßen fremd und verwinkelt sind, finde ich problemlos den Weg zum Holocaust-Museum.
Nachdem ich vor dem massiven, düsteren Gebäude durch einen Metalldetektor gegangen bin, durchquere ich einen grauen Innenhof. Dabei komme ich vorbei an einem Denkmal mit den Namen der Konzentrationslager unter einem metallenen Davidstern und betrete das Museum durch die dahinter liegenden Türen. Die Frau am Empfangsschalter, die zum Glück Englisch spricht, schlägt mir vor, es zunächst einmal an den Computern gegenüber dem Schalter zu versuchen. Sie sind die erste Anlaufstelle für Besucher, die nach Angehörigen suchen. Dort stoße ich, wie erwartet, auf dieselben Informationen, die ich bereits im Internet gefunden habe. Die Namen von der Liste meiner Großmutter, alle bis auf Alain.
Ich gehe wieder an den Schalter und erkläre der Frau, dass ich nach jemandem suche, dessen Name nicht in den Unterlagen auftaucht, und nach Informationen darüber, was genau mit den Leuten passiert ist, deren Namen ich gefunden habe. Sie nickt und führt mich zum Lift am Ende des Flurs.
»Nehmen Sie den Aufzug in den dritten Stock«, sagt sie. »Dort finden Sie einen Lesesaal. Bitten Sie am Schalter um Hilfe.«
Ich nicke, bedanke mich bei ihr und fahre mit dem Aufzug nach oben.
Der Lesesaal besteht aus zwei Ebenen, mit Computern und langen Tischen auf der unteren Ebene und Regalen voller Bücher und Aktenordner auf der oberen, unter einer hohen Decke, durch die von oben Licht hereinfällt. Ich wende mich an den Schalter, wo mich eine Frau auf Französisch begrüßt und ins Englische überwechselt, sobald ich frage: »Könnten Sie mir bitte helfen, Informationen über einige Leute zu finden?«
»Natürlich, madame «, sagt sie. »Was kann ich für Sie tun?«
Ich nenne ihr die Namen von Mamies Liste, zusammen mit ihren Geburtsjahren, und erkläre ihr, dass ich Alain nicht finden kann. Sie nickt und verschwindet für ein paar Minuten. Dann kommt sie mit mehreren Blättern loser Unterlagen wieder.
»Das hier ist alles, was wir über diese Leute haben«, sagt sie. »Wie Sie bereits sagten, können wir Alain auf keiner der Deportiertenlisten finden.«
»Was könnte das bedeuten?«,
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