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Solange am Himmel Sterne stehen

Solange am Himmel Sterne stehen

Titel: Solange am Himmel Sterne stehen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kristin Harmel
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Augenblicke später gehe ich ihr nach und klopfe leicht an ihre Tür. Ich kann hören, wie sie vom Bett aufsteht, wie die Sprungfedern ihrer alten Matratze wie zum Protest knarren. Sie öffnet die Tür und lächelt mich an. »Hallo, Liebes«, sagt sie. »Ich habe dich gar nicht hereinkommen hören. Verzeih mir. Ich habe nur eben meinen Lippenstift nachgezogen.«
    Und tatsächlich hat sie einen frischen, burgunderroten Lippenstift aufgetragen. Ich sehe sie einen Moment an. »Geht es dir gut?«, frage ich zögernd.
    »Natürlich, Liebes«, sagt sie fröhlich.
    Ich hole einmal tief Luft. Sie scheint keine Erinnerung an ihren Ausbruch vor ein paar Sekunden zu haben. Diesmal ergreife ich ihre Hände. Ich brauche eine Antwort.
    »Mamie, sieh mich an«, sage ich. »Ich bin deine Enkelin, Hope. Erinnerst du dich?«
    »Natürlich erinnere ich mich. Sei nicht albern.«
    Ich halte ihre Hände fest umklammert. »Hör zu, Mamie, ich werde dir nicht wehtun. Ich liebe dich über alles. Aber ich muss wissen, ob deine Familie jüdisch war.«
    Ihre Augen flackern wieder, aber diesmal halte ich meine Großmutter fest und sorge dafür, dass sie nicht wegsieht. »Mamie, ich bin’s«, sage ich. Ich spüre, wie sich ihre Hände fest um meine legen. »Ich versuche nicht, dir wehzutun. Aber du musst mir antworten.«
    Sie starrt mich noch einen Augenblick an, dann löst sie sich von mir. Ich folge ihr, während sie wieder zum Fenster im Wohnzimmer geht. Ich fange schon an zu glauben, dass sie meine Frage vergessen hat, als sie schließlich mit einer Stimme, die kaum mehr als ein Flüstern ist, zu sprechen beginnt.
    »Gott ist überall, Liebes«, sagt sie. »Man kann ihn nicht durch eine einzige Religion definieren. Weißt du das denn nicht?«
    Ich lege ihr eine Hand auf den Rücken und fasse neuen Mut, als sie nicht zusammenzuckt. Sie starrt an den austernfarbenen Himmel, während das Blau allmählich im Horizont versinkt.
    »Egal, was wir von Gott halten«, fährt sie in demselben sanften, gelassenen Ton fort, »wir leben alle unter demselben Himmel.«
    Ich zögere. »Diese Namen, die du mir gegeben hast, Mamie«, sage ich leise. »Die Picards. War das deine Familie? Wurden sie im Zweiten Weltkrieg verschleppt?«
    Sie gibt keine Antwort. Sie starrt noch immer aus dem Fenster. Einen Augenblick später versuche ich es noch einmal. »Mamie, war deine Familie jüdisch? Bist du jüdisch?«
    »Ja, natürlich«, sagt sie, und ich bin so verdutzt darüber, wie prompt ihre Antwort kommt, dass ich einen Schritt zurückweiche.
    »Wirklich?«, frage ich.
    Sie nickt. Schließlich wendet sie sich zu mir um. »Ja, ich bin jüdisch«, sagt sie. »Aber ich bin auch katholisch.« Sie schweigt kurz und ergänzt dann: »Und auch muslimisch.« Meine Stimmung sinkt. Einen Augenblick lang hatte ich gedacht, sie würde mit klarem Verstand sprechen.
    »Mamie, was meinst du damit?«, frage ich, bemüht, das Zittern in meiner Stimme zu unterdrücken. »Du bist doch keine Muslimin.«
    »Das ist doch alles dasselbe, oder? Die Menschheit hat die Unterschiede geschaffen. Das heißt nicht, dass es nicht derselbe Gott ist.« Sie wendet sich wieder zum Fenster um. »Der Stern«, murmelt sie einen Augenblick später, und ich folge ihrem Blick zu dem ersten winzigen Lichtpunkt vor der untergehenden Sonne. Einen Moment lang sehe ich mit ihr zusammen dorthin, versuche zu sehen, was sie sieht, versuche zu verstehen, was sie veranlasst, jeden Abend an diesem Fenster zu sitzen und nach etwas zu suchen, das sie offenbar nie findet. Nach einer langen Weile wendet sie sich lächelnd zu mir um.
    »Meine Tochter Josephine wird mich bald einmal besuchen kommen«, sagt sie zu mir. »Sie sollten sie kennenlernen. Sie werden sie mögen.«
    Ich schüttele den Kopf und sehe zu Boden. Ich entscheide, ihr nicht zu sagen, dass meine Mutter vor langer Zeit gestorben ist. »Bestimmt«, murmele ich.
    »Ich denke, ich werde mich jetzt ausruhen«, sagt sie. Sie sieht mich ohne einen Schimmer des Erkennens an. »Danke fürs Kommen. Ich habe mich über Ihren Besuch gefreut. Ich werde Sie jetzt zur Tür bringen.«
    »Mamie«, versuche ich es noch einmal.
    »Nein, nein«, sagt sie. »Meine mamie lebt nicht hier. Sie lebt in Paris, in der Nähe des Turms. Aber ich werde sie von Ihnen grüßen.«
    Ich mache den Mund auf, um etwas zu erwidern, aber es kommen keine Worte hervor. Mamie scheucht mich zur Tür.
    Ich bin schon über der Schwelle, und die Tür hat sich fast hinter mir geschlossen, als Mamie sie

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