Solange am Himmel Sterne stehen
gehört«, sagt Simon. Er wirft einen Blick auf Alain. »Na ja, fast nie.«
Alain nickt. »Jacob hat einmal etwas erwähnt, was mich nachdenklich gestimmt hat …« Seine Stimme verliert sich, und er schüttelt den Kopf. »Aber ich habe es nie wirklich geglaubt.«
»Es gab einmal eine Zeit«, sagt Henri, »da sahen wir einander in gewisser Weise als Brüder an. Die Juden und die Muslime. Die Muslime wurden im Krieg nicht verfolgt, so wie wir, aber man hat ihnen immer das Gefühl gegeben, Außenseiter zu sein, genau wie den Juden. Ich würde vermuten, manche Muslime hat es persönlich berührt zu sehen, wie die Juden verfolgt wurden. Wer konnte schon sagen, ob das Land nicht als Nächstes ihnen den Rücken kehren würde?«
»Und so ging das Gerücht, sie würden uns helfen«, sagt Simon. »Ich wusste nie, ob es stimmte.«
»Was meinen Sie damit?«, frage ich.
»Die Gerüchte behaupteten immer, die Muslime hätten vielen Kindern, deren Eltern man deportiert hatte, und auch einigen Erwachsenen Schutz und Unterschlupf gewährt«, sagt Alain. »Und dass sie diese Leute schließlich mithilfe der Untergrundbewegung in die unbesetzte Zone geschickt und ihnen in einigen Fällen sogar geholfen hätten, gefälschte Papiere zu bekommen.«
»Du willst mir sagen, Muslime haben Juden aus Paris herausgeschmuggelt?«, frage ich kopfschüttelnd. Es fällt mir schwer, das zu glauben.
»Das Oberhaupt der Großen Moschee von Paris war damals der mächtigste Muslim in Europa«, sagt Henri. Er wirft einen Blick auf Alain. »Si Kaddour Beng – Comment s’est-il appelé ?«
»Benghabrit«, sagt Alain.
Henri nickt. »Ja, so hieß er. Si Kaddour Benghabrit. Die französische Regierung wagte es nicht, ihn anzutasten. Und es ist gut möglich, dass er seine Macht und seinen Einfluss genutzt hat, um viele Leben zu retten.«
Ich starre kopfschüttelnd aus dem Fenster, während Paris an mir vorbeifliegt. In der Ferne zeichnen sich die Türme von Notre-Dame rechts vor dem Himmel ab, während wir über eine Brücke aufs linke Ufer zurasen. Weit weg kann ich Kirchenglocken hören, die die volle Stunde schlagen. »Du meinst also, so könnte meine Großmutter aus Paris herausgekommen sein? Dass Muslime von der Großen Moschee sie vielleicht aus der Stadt geschmuggelt haben?«
»Das würde erklären, wo sie gelernt hat, muslimisches Gebäck zu backen«, sagt Alain.
»Es würde viele Fragen beantworten«, ergänzt Henri. »Es ist nicht anzunehmen, dass es irgendwelche Unterlagen darüber gibt. Niemand spricht darüber. Die Geheimnisse jener Zeit sind mit jener Zeit gestorben. Heute ist das Verhältnis zwischen den Religionsgruppen sehr angespannt. Es lässt sich unmöglich sagen, ob es stimmt.«
»Aber was, wenn doch?«, flüstere ich. Und dann fallen mir auf einmal Mamies Worte an mich ein, kurz bevor ich nach Paris geflogen bin, als ich sie nach einer Antwort auf meine Frage drängte, ob sie jüdisch sei oder nicht. Ja, ich bin jüdisch , hatte sie gesagt. Aber ich bin auch katholisch. Und auch muslimisch . Ich schaudere bei der Erkenntnis, und meine Augen weiten sich.
Das Taxi hält am Straßenrand vor einem weißen Gebäude mit dunkelgrünen Dachziegeln, kunstvollen Bögen und glänzenden Kuppeln. Ein grün umrandetes Minarett ragt von dem Gebäude auf, und obwohl die Details eindeutig marokkanisch sind, hat es auch große Ähnlichkeit mit einem der Türme von Notre-Dame, an denen wir eben vorbeigefahren sind. Noch etwas, das Mamie gesagt hat, hallt in meinem Kopf wider. Die Menschheit hat die Unterschiede geschaffen , hatte sie mir letzte Woche gesagt. Das heißt nicht, dass es nicht derselbe Gott ist .
Henri bezahlt den Fahrer, und wir steigen aus dem Taxi. Ich bin sowohl Henri als auch Simon behilflich, während sie die Beine strecken und auf den Gehsteig treten.
»Es gab einmal eine Zeit, da konnte ich das allein«, sagt Henri lächelnd. Er zwinkert mir zu, und wir vier gehen auf einen gewölbten Eingang an einer Ecke des Gebäudes zu.
»Wenn hier nie jemand darüber spricht, was passiert ist«, flüstere ich Alain zu, während wir in einen kleinen Innenhof treten, »was tun wir dann hier?«
Er hakt sich bei mir unter und lächelt mich an. »Wir sehen uns süße Teilchen an«, sagt er.
Der Innenhof ist von Sonnenlicht gesprenkelt, das zwischen den Bäumen hindurchschimmert und Schatten auf den gefliesten weißen Boden wirft. Kleine, blau-weiß gekachelte Tische sind in der Mitte des Hofs und an den Seiten aufgestellt, alle
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