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Solange am Himmel Sterne stehen

Solange am Himmel Sterne stehen

Titel: Solange am Himmel Sterne stehen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kristin Harmel
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hören?«, frage ich, bevor wir gehen.
    Er lächelt. »Das weiß ich nicht«, sagt er. »Aber irgendetwas zu tun kommt mir immer noch besser vor, als gar nichts zu tun. Und ich erzähle ihr Geschichten von unserer Familie, Geschichten, an die ich selbst siebzig Jahre lang nicht denken wollte. Ich glaube, wenn irgendetwas sie zurückholen kann, dann das. Ich will sie wissen lassen, dass die Vergangenheit weder verloren noch vergessen ist, selbst wenn Rose hierhergekommen ist und sie auszulöschen versucht hat.«
    Als ich eine Stunde später nach Hause komme, nachdem ich Alain auf seine Bitte hin bei der Bibliothek abgesetzt habe, sitzt Annie im Schneidersitz mitten im Wohnzimmer auf dem Boden, das schnurlose Telefon ans Ohr gedrückt, und sagt: »Ah ja … ah ja … ah ja … okay.« Im ersten Moment leuchten meine Augen auf; hat sie Jacob Levy gefunden? Schließlich folgen ihre Worte nicht dem üblichen »Entschuldigung-ich-habe-die-falschen-Levys-angerufen«-Skript. Aber dann dreht sie sich um, und ich sehe ihre Miene.
    »Ja, okay«, höre ich sie sagen. »Egal.« Sie drückt auf Beenden und knallt das Telefon auf den Boden.
    »Schatz?«, frage ich zögernd. Ich bin im Türrahmen zwischen Küche und Wohnzimmer stehen geblieben und starre sie besorgt an. »War das wieder einer der Levys?«
    »Nein«, sagt sie.
    »War es einer deiner Freunde?«
    » Nein «, sagt sie, und diesmal ist ihr Ton angespannter. »Es war Dad.«
    »Okay«, sage ich. »Gibt es irgendetwas, worüber du reden willst?«
    Sie schweigt lange Zeit, während sie auf den Teppich starrt, den ich, wie mir in diesem Augenblick auffällt, seit einer Ewigkeit nicht mehr gestaubsaugt habe. Haushaltsführung ist nicht meine starke Seite. Aber als sie zu mir aufsieht, blickt sie so wütend, dass ich unwillkürlich einen Schritt zurücktrete.
    »Warum hast du uns da überhaupt hineingezogen?«, will Annie wissen. Sie rappelt sich hoch, die Fäuste an ihren langen, mageren Beinen geballt, die sich erst noch von denen eines Kindes zu denen einer jungen Frau entwickeln müssen.
    Ich blinzele sie verdutzt an. »In was hineingezogen?«, frage ich, bevor mir einfällt, dass ich als ihre Mom ihr sagen sollte, dass sie nicht in diesem Ton mit mir zu reden hat. Aber sie ist schon in voller Fahrt.
    »Alles!«, brüllt sie.
    »Schatz, wovon redest du denn?«, frage ich vorsichtig.
    »Wir werden ihn nie finden! Jacob Levy! Das ist einfach unmöglich! Und dir ist es ja sowieso nicht wichtig!«
    Meine Stimmung sackt ein bisschen ab. Ich habe sie wieder einmal enttäuscht, indem ich sie nicht besser darauf vorbereitet habe, dass diese ganze Suche vermutlich ein aussichtsloses Unterfangen ist, dass Jacob wahrscheinlich längst tot ist oder dass er verschwunden ist, weil er nicht gefunden werden will. Ich weiß, Annie will an die wahre Liebe glauben, die ewig hält – vermutlich als Gegenentwurf zum Scheitern meiner eigenen Ehe, das sie von ihrem Logenplatz aus mit ansehen musste –, aber ich hatte gehofft, ihre Seifenblase nicht schon jetzt platzen lassen und ihr die Wahrheit sagen zu müssen. Mit zwölf habe ich auch noch an die wahre Liebe geglaubt. Erst als ich älter wurde, begriff ich, dass das alles nur ein schöner Schein war.
    Ich schlucke schwer. »Natürlich ist es mir wichtig, Annie«, beginne ich. »Aber es ist gut möglich, dass Jacob nicht …«
    Sie schneidet mir das Wort ab, bevor ich den Satz beenden kann. »Es geht nicht nur darum!«, brüllt sie. Sie fuchtelt mit ihren langen, dünnen Armen durch die Luft und scheint es kaum zu bemerken, als ihr rosa Uhrarmband für einen Moment in ihrem Haar hängen bleibt. Sie reißt es einfach los und zuckt nur kurz zusammen, bevor sie fortfährt: »Es geht um alles! Du machst alles kaputt!«
    Ich hole einmal tief Luft. »Annie, falls es darum geht, dass ich für ein paar Tage nach Paris geflogen bin … ich habe dir bereits gesagt, wie sehr es mich gefreut hat, dass du so verantwortungsbewusst warst, als ich nicht da war.«
    Sie verdreht die Augen und stampft mit dem linken Fuß auf. »Du weißt doch gar nicht, wovon ich rede!« Sie wirft mir einen vernichtenden Blick zu.
    »Na schön, dann bin ich eben eine Idiotin!«, sage ich. Ich kann spüren, wie ich allmählich die Geduld verliere. Es ist ein schmaler Grat, Mitleid mit meiner Tochter zu haben oder mich über ihr Benehmen zu ärgern, und ich kann spüren, wie ich im Augenblick genau über diesem Grat schwebe. »Was habe ich denn jetzt schon wieder falsch

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