Solange am Himmel Sterne stehen
fahren – nachdem ich noch eine Kundin bedient habe, Christina Sivrich von der hiesigen Theatergruppe, die in letzter Minute um zweieinhalb Dutzend Kekse gebeten hat, um sie morgen zu einer Klassenparty ihres sechsjährigen Sohns Ben mitzubringen –, hat Annie drei Dutzend Telefonate getätigt.
»Bist du so weit?«, frage ich sie, während ich mir die Hände abtrockne und die Schlüssel von dem Haken neben der Küchentür schnappe.
»Kann ich noch einen Anruf versuchen, Mom?«, fragt Annie.
Ich sehe auf die Uhr und nicke. »Einen noch. Aber dann müssen wir zum Krankenhaus, solange dort noch Besuchszeit ist. Okay?«
Ich lehne mich gegen die Arbeitsplatte und höre zu, wie Annie ein letztes Mal ihre Leier wiederholt. Sie blickt gequält, als sie auflegt. »Wieder nichts«, murmelt sie.
»Annie, du bist erst bei der dritten Seite«, ruft Alain ihr in Erinnerung. »Wir haben noch viele Jacob Levys, bei denen wir es morgen versuchen können. Und dann sind da noch die ganzen J. Levys auf deiner Liste.«
»Ich nehm’s an«, sagt Annie. Sie seufzt und springt vom Küchentresen, wobei sie die Liste neben dem Telefon liegen lässt.
»Annie, keine Sorge«, sage ich, bemüht, ihren Optimismus zu teilen. »Vielleicht wirst du ihn ja noch finden.«
Der vernichtende Blick, den sie mir zuwirft, verrät mir, dass sie allmählich die Hoffnung verliert. »Egal«, sagt sie. »Fahren wir zu Mamie.«
Alain und ich tauschen einen besorgten Blick und folgen ihr nach draußen.
18
In den nächsten Tagen bleibt alles unverändert. Mamie rührt sich nicht. Gavin schaut jeden Morgen auf eine Tasse Kaffee und etwas Süßes vorbei und erkundigt sich nach dem Zustand meiner Großmutter. Alain kommt morgens hinter Annie hergezuckelt, geht mir tagsüber zur Hand und sitzt nachmittags mit ihr zusammen, während sie die nächste Runde ergebnisloser Telefonanrufe in Angriff nimmt. Nachdem wir die Bäckerei am Spätnachmittag geschlossen haben, fahren wir drei die dreißig Minuten hinüber zu dem Krankenhaus in Hyannis, um neunzig Minuten an Mamies Bett zu verbringen. Das einzig Tröstliche bei dieser ganzen Routine ist, dass die Touristensaison vorbei ist, sodass auf der Route 6 relativ wenig Verkehr herrscht, wenn wir auf die südwestliche Seite des Cape und wieder zurück fahren.
Im Krankenzimmer hält Alain Mamies Hand und murmelt ihr auf Französisch zu, während Annie und ich auf zwei Stühlen vor ihrem Bett sitzen. Von Zeit zu Zeit steht Annie auf und huscht hinüber zu Alain und streicht Mamie übers Haar, während er leise zu ihr spricht. Ich schaffe es nicht, mich dabei einzubringen; ich fühle mich seltsam leer. Der letzte Mensch, auf den ich mich verlassen konnte, entgleitet mir immer mehr, und ich kann nichts tun, um es aufzuhalten.
Am Sonntag schließe ich die Bäckerei früh, schon um Mittag, und Alain bittet mich, ihn zum Krankenhaus zu fahren.
»Willst du auch mitkommen?«, frage ich Annie.
Sie blickt unschlüssig. »Später vielleicht. Aber zuerst will ich noch ein paar Levys von meiner Liste anrufen. Kann ich zu Hause bleiben, während du Onkel Alain hinfährst?«
Ich zögere. »Na schön. Aber geh auf keinen Fall an die Tür.«
»Gott, Mom, ich bin doch kein Kind mehr«, sagt Annie und greift zum Telefon.
Im Auto, auf dem Weg nach Hyannis, erzählt mir Alain von einem Restaurant in Paris, in das er und Mamie vor dem Krieg gern gingen. Er war damals noch ein kleiner Junge und Mamie nicht einmal ein Teenager. Nach dem Essen kam der Besitzer immer zu ihnen an den Tisch und machte spezielle Crêpes für die Kinder, mit Schokolade und braunem Zucker und Bananen. Und Mamie und Alain kicherten und zeigten auf den Besitzer, während er die Crêpes vor ihren Augen anzündete und dann so tat, als könnte er sie nicht mehr löschen.
»Das waren wundervolle Zeiten«, sagt Alain. »Das war, bevor die religiöse Zugehörigkeit der Leute eine Rolle spielte. Bevor alles anders wurde.« Er hält kurz inne und fügt dann hinzu: »In der Nacht, als meine Familie abgeholt wurde, bin ich an diesem Restaurant vorbeigerannt. Und der Besitzer stand vor der Tür und sah zu, wie all diese Leute die Straße hinunter in den Tod getrieben wurden. Und weißt du was? Er lächelte. Manchmal verfolgt mich dieses Lächeln noch immer in meinen Albträumen.«
Die restliche Fahrt starrt er nur aus dem Fenster.
Im Krankenhaus setze ich mich mit Alain für eine kurze Weile an Mamies Bett, während er ihr zuflüstert.
»Meinst du, sie kann dich
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