Solange, bis ich dich finde: Roman (German Edition)
keinen Sinn, warum er einfach verschwunden ist, und deshalb mache ich mich jetzt auf den Weg zu seiner Familie.
„Ciao, Lea“, begrüßt mich seine Mutter, aber dieses Mal nicht so herzlich wie die letzten Male.
„Dove é Alfredo?“, frage ich sie und bitte sie darum, mir zu sagen, wo Alfredo steckt. Doch sie zuckt nur mit den Schultern und läuft von mir weg. Ich gehe ihr nach und bitte sie, mir zu verraten, was los ist. Plötzlich bleibt sie stehen, dreht sich nach mir um und meint: „Se ne’ éandato.“ Ich glaube, das heißt, er ist weg. Aber wo ist er denn?
„Dove si trova?“, frage ich sie bittend, doch gibt sie mir keine Antwort und tut so, als wüsste sie von nichts. Ich merke, dass ich nicht weiterkomme, schon wegen der Sprache. Kurzum entschließe ich mich, zur Universität zu fahren, vielleicht ist er ja dort.
Der Vorlesungssaal ist leer und von Alfredo gibt es keine Spur. Auch im Aufenthaltsraum, wo er öfters lernt, ist er nicht. Ein paar seiner Kommilitonen sind jedoch da.
„Äh, scusa. Sapete dove é Alfredo?“, frage ich und hoffe, dass ich auf Italienisch einigermaßen korrekt fragen konnte, ob sie wissen, wo Alfredo ist. Als sie mir antworten, verstehe ich vieles nicht, doch nachdem sie weiter versucht haben, es mir zu erklären, ahne ich, was sie mir sagen möchten. Alfredo war noch einmal hier und sagte, dass er für die nächste Zeit weg wäre. Dann ist sein Wegbleiben also geplant. Na toll, zuerst dachte ich, Alfredo wäre der Mann – mein Traummann – und jetzt entpuppt er sich als ein Feigling, der nicht sagt, wovor er Angst hat. Zu meinem Schrecken oder auch zu meiner Erleichterung vermisse ich ihn nicht so, wie es normal wäre, wenn ich ihn lieben würde. Noah stattdessen vermisse ich noch immer sehr stark. Was soll ich hier bloß machen? Mein Leben hat erst angefangen, und so wie es aussieht, endet es schon wieder. Soll ich einfach von hier abhauen, ohne noch einmal mit Alfredo gesprochen zu haben? Aber was soll ich denn sonst machen? Er ist weg, und für wie lange, weiß ich nicht. Ich könnte ihm einen Brief schreiben und ihm erklären, dass ich ihn verstehe, wenn alles zwischen uns noch etwas zu früh ist, falls das der Grund für sein Verschwinden ist. Am liebsten würde ich jetzt Anna anrufen, aber noch lieber würde ich sie besuchen. Das mache ich – ich buche einen Flieger und besuche Anna. Vielleicht bleibe ich ein paar Tage bei ihr, bis ich weiß, wie es weitergeht und vielleicht wird sich Alfredo irgendwann einmal melden, er hat ja meine Handynummer.
„Hallo Marc“, sage ich fröhlich, als Annas Mann die Türe öffnet. Mit geöffnetem Mund steht er vor mir und schaut mich an, als wäre ich von einem fremden Planeten geflohen.
„Lea?“
„Hallo Marc, schön dich zu sehen. Ist Anna da?“
„Anna?“
„Ja doch, oder denkst du, ich bin wegen euren Grünpflanzen hier?“
„Anna ist nicht da. Das heißt, sie kommt heute Abend wieder.“
„Gut, dann mache ich so lange eine kleine Tour. Und, ach ja, sage Anna bitte nichts davon, es soll eine Überraschung sein.“
„In Ordnung“, sagt Marc und verabschiedet sich achselzuckend.
In der Bahnhofstraße schaue ich bei meiner alten Wohnung vorbei, die ich nur kurz bezogen habe, bevor ich nach Venedig abgehauen bin. Die Rollläden sind noch immer unten. Als ich durch einen kleinen Spalt am Fenster, der nicht vom Rollo verdeckt ist, einen kurzen Blick in die Wohnung wage, erkenne ich meine alte Couch, die immer noch dort steht. Hier hätte alles anders werden sollen und ich wollte ein neues Leben beginnen, wollte mich von dem alten Leben mit Daniel verabschieden. Dank Noah hat das nicht geklappt. Nachdem ich die ganze Straße weiter geradeaus gelaufen bin, stehe ich vor der Katner Company. Ob Noah wohl dort ist? Schnell weg, denn es ist besser, wenn ich ihm nicht begegne. Auf dem Weg zum Bahnhof kommt mir spontan in den Sinn, meine alte Wohnung aufzusuchen, die ich vor der Wohnung in der Bahnhofstraße hatte. Zwar wohnt jetzt dort Noah, aber um diese Zeit wird er bestimmt arbeiten. Auch dort sind alle Rollläden bis auf einen Spalt unten und meine Neugierde ist so groß, dass ich es wage, etwas hineinzulugen. Das gibt es doch nicht – alles ist leer geräumt. Sofort versuche ich es beim nächsten Fenster noch einmal – und wieder sehe ich kein einziges Möbelstück. Derek hat doch die Wohnung leer geräumt und Noah ist eingezogen. Das habe ich selbst noch mitbekommen. Seltsam.
„Hallo Frau Aurelius“,
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