Solange, bis ich dich finde: Roman (German Edition)
uns um, die mein lautes Geschrei gehört haben. Ich entschuldige mich, immer noch wütend, als mir auf einmal die Sprache wegbleibt. Einer, der sich umgedreht hat, ist der Mann aus dem Zug, dem ich vor zwei Tagen in der Kabine gegenübergesessen bin. Er blickt mich an und dreht sich wieder nach vorne. Ich bin wie versteinert und ganz ruhig geworden. Ich muss ihn immer anschauen, wenn ich auch nur seinen Rücken betrachten kann.
„Ist alles in Ordnung bei dir?“, fragt mich Anna.
„Ja, alles gut“, ist das Einzige, was ich herausbringe.
Jetzt dreht er sich erneut um, ganz langsam. Er blickt mir direkt in die Augen, während ich es immer noch nicht geschafft habe, meinen Blick von ihm zu lösen. Wir schauen uns beide an, als gäbe es sonst niemanden um uns herum. Was ist nur los mit mir? Schau doch endlich weg. Jetzt nickt er mir auch noch mit einem verschmitzten Lächeln zu. Zögernd nicke ich zurück und merke dabei, wie ich schlucken muss, um meine Kehle zu befeuchten. Langsam hebe ich eine Hand, als wolle ich ihm zuwinken. Erst jetzt dreht er sich wieder nach vorne.
„Lea? Wieso stehst du so komisch da?“, fragt mich Anna. „Wieso stehe ich komisch da?“, frage ich sie.
„Na, weil du ständig deine Hand nach oben hältst?“
Oh mein Gott. Wie peinlich. Schnell bewege ich meine Hand nach unten und dabei bemerke ich, wie feucht meine Hände sind. Wieso bringt mich dieser Mann so aus der Fassung? Auf einmal wird es mir ganz mulmig in meinem Magen, als ich sehe, wie dieser Mann seinen Arm um eine Frau legt. Lea, wach auf. Du bist ihm bloß einmal ganz zufällig im Zug begegnet. Er geht dich nichts an und ist wahrscheinlich schon längst vergeben. Bestimmt ist er glücklich verheiratet und die beiden haben gemeinsam ganz viele Kinder. Ein glückliches Paar eben. „Gott sei Dank geht es allmählich voran. Ich möchte jetzt da rein. Danach gehen wir noch etwas trinken, oder?“
„Kann es sein, dass du eigentlich nur etwas trinken gehen wolltest? Du machst mir gar nicht den Eindruck, als hättest du wirklich Interesse an dem Theaterstück“, entgegnet mir Anna.
„Also hör mal, wie kommst du denn da drauf?“, antworte ich ihr, und dabei gucke ich sie auch noch so gleichgültig an. Bestimmt weiß sie spätestens jetzt, dass sie Recht hat und mich das Theater eigentlich gar nicht interessiert. Sie gibt mir keine Antwort. Stattdessen reicht sie dem Mann an der Kasse unsere Karten und betritt wortlos den Theatersaal. Wir setzen uns auf unsere Plätze, ziemlich weit hinten. Ich glaube, jetzt ist sie wirklich sauer. Sie schaut mich nicht einmal mehr an.
Es ist dunkel und still geworden. Das Geräusch der Trommelwirbel lässt die Spannung ganz nach oben steigen. Mein Herz pocht schneller zu dem Rhythmus mit den tiefen Klängen. Plötzlich wird es heller und die Schauspieler beginnen mit einem Lied, in dem es um einen Familienstreit geht. Wunderschön.
„He, Anna, worum geht es in diesem Stück?“, frage ich sie in flüsterndem Ton. Allerdings spricht sie immer noch nicht mit mir. Gut, dann eben nicht. Einige Minuten später wird sie dann doch weich und antwortet mir: „Ein Familiendrama. Der Mann gesteht seiner Frau, eine Affäre zu haben. Doch es hängt alles an dieser Ehe. Der gute Ruf, die Geschäfte und so weiter. Am Schluss bricht alles zusammen und die Frau tötet ihren Mann.“
„Sie tötet ihn?“
„Ja, mit Gift. Aber nun schau es dir doch an.“
Nun bin ich froh, dass sie wieder mit mir redet. Der Abend ist gerettet und ich schau mir dieses Spektakel an, somit komme ich wenigstens auf andere Gedanken. Wobei, hier geht es auch nur um Streit, Eifersucht und Rache. Wo Männer sind, ist eben nichts mehr zu retten. Aber dieses Mal schaue ich zu, während es mich selbst nicht betrifft.
Das Theaterstück ist fast zu Ende. Es wird leiser, und jetzt bemerke ich, wie einige Leute schluchzen. Mich hat das Stück gar nicht so tief berührt. Vielleicht liegt es daran, weil ich selber schon voll bin mit dem allem. Gut, der Schluss war schon sehr dramatisch, als die Geliebte in Tränen aufgelöst all seine Briefe in den See warf und am Schluss sich die Pulsadern durchtrennte, um dann selbst in den See zu springen und zu sterben. Jetzt verstehe ich auch den Titel des Stückes: „Seen der Herzen.“
Endlich können wir aufstehen und uns nach draußen bewegen. In dieser Menschenmenge ist es kaum möglich, einen Schritt nach dem anderen zu machen.
„Hat es dir gefallen?“, fragt Anna.
„Ja, es war
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