Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Solange die Nachtigall singt

Solange die Nachtigall singt

Titel: Solange die Nachtigall singt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
Vom Netzwerk:
Wald. Sie fanden die Schönheit. Es war unglaublich, es war … atemberaubend.«
    »Niemand wird je erfahren, weshalb die Entführer sie in den Wald brachten«, sagte Joana. »Weshalb sie glaubten, der Wald wäre ein besserer Ort zur Übergabe eines Vertrags. Ich denke, einer der Männer war in der Nähe aufgewachsen. Da war eine Klamm mit hohen Felswänden. In einem Baum hoch oben sang eine Nachtigall. Und dann ging alles schief.«
    »Es war die Schuld des dritten kleinen Mädchens«, wisperte Jascha. »Es sprach, obwohl es nicht sprechen durfte. Es sagte: Solange die Nachtigall singt …«
    »Was wollte es weiter sagen?«, fragte Jolanda.
    »Das hat es vergessen«, antwortete Jascha leise. »Vielleicht: … wird alles gut. Vielleicht: … wird nichts gut. Der Vater der Mädchen ist gerannt, und die Leute von der Polizei hörten, dass er rannte. Sie dachten, sie müssten helfen. Die Entführer hätten sie nicht sehen dürfen. Oben auf der Klamm stand der unglückliche Mann aus dem fernen Land. Der Schuss war sehr laut. Der Vater der Mädchen fiel sehr leise. Da war Blut zwischen seinen Fingern und an seiner Brust. Es hatte eine ganz andere Farbe, als ich dachte.«
    »Die drei kleinen Mädchen waren an den Händen gefesselt«, fuhr Jolanda fort, ihre Stimme kühl wie immer, unbeteiligt und fern, ganz anders als die von Jascha. »Sie mussten laufen, schnell laufen. Die beiden Männer, die mit ihnen liefen, hatten Angst. Wer Angst hat, ist schnell. Die Leute von der Polizei hatten keine Angst, sie waren nicht schnell genug. Ich glaube, sie hatten das Waldgebiet eingekreist, da waren viele von ihnen, aber irgendwo gab es Lücken … Es war Nacht. Es war kalt. Es stürmte und regnete. Der Regen muss ihre Spuren im Waldboden fortgewaschen haben. Am nächsten Morgen stritten die Männer. Ihre Angst war in der Nacht nicht kleiner geworden. Sie schrien sich an, in einer fremden Sprache. Der eine sprang irgendwann auf und lief aus der Höhle, in den Regen. Er stand da, ganz nass. Dann drehte er sich um, hob seine Waffe und schoss. Es war nicht so laut wie der andere Schuss, in der Klamm. Aber es hörte nicht auf. Er schoss viele Male. Es war Morgen, aber es war sehr dunkel in der Höhle.«
    Sie schwiegen alle drei, und ihr Blick war nach innen gekehrt, sie sahen die Dunkelheit wieder. Das also war die Dunkelheit in ihren Augen – eine Erinnerung an die Dunkelheit der Höhle.
    »Das erste kleine Mädchen öffnete die Augen zuerst«, sagte Jolanda.
    »Das zweite kleine Mädchen öffnete die Augen als Zweites«, sagte Joana.
    »Das dritte kleine Mädchen wollte die Augen gar nicht öffnen«, sagte Jascha. »Es lag ganz unten, unter den anderen. Es lag sehr lange da und sah nichts. Aber dann öffnete es seine Augen doch und setzte sich auf.«
    »Der Mann lag über ihnen wie eine Decke«, flüsterte Jolanda. »Er war schwer. Seine Kleider waren feucht. Er bewegte sich nicht. Sie schoben ihn weg und standen auf.«
    »Und dann liefen sie in den Wald hinaus«, sagte Joana. »Oder hinein, je nachdem. Sie wussten nicht, wohin sie gehen sollten. Sie hatten niemanden mehr. Da waren Hunde und Polizisten, die den Wald durchkämmten. Die drei kleinen Mädchen hatten Angst vor den Hunden. Sie hatten das Gefühl, schuld zu sein. An allem. Sie wollten nicht von der Polizei gefunden werden. Sie wateten durch Wasser, sie kletterten auf einen Baum. Sie saßen lange, lange dort verborgen. So lange, bis die Hunde und die Polizisten fort waren. Da war auch das Geräusch eines Hubschraubers, der suchte genauso. Und fand genauso wenig. Und drehte irgendwann ab. Und die Mädchen kletterten aus ihrem dichten Astversteck. Und stießen, kurz darauf, auf das Haus.«
    Jascha nickte. »Es war voll von Efeu und rotem wildem Wein, und es stand einfach da, als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt, dass mitten im Wald ein altes Haus steht. Es hatte einmal eine Straße dorthin gegeben oder einen breiten Weg, der jetzt überwuchert und zugewachsen war. Vor diesem Haus hatten die Mädchen keine Angst. Es war so friedlich. So still. So schön. Sie waren an einem Ort jenseits der Angst angekommen. An einem Ort jenseits von allem. Ihre Herzen waren leer.«
    »Das Haus war nicht leer. Darin wohnte ein alter Mann. Er hatte den Weg zuwuchern lassen. Er war ein wenig eigen. Er lebte nur für sich und die Schönheit, dort draußen im Wald. Früher hatte er vielleicht im Dorf gewohnt, aber er erzählte den kleinen Mädchen seine Geschichte nie. Ihre

Weitere Kostenlose Bücher