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Solange die Nachtigall singt

Solange die Nachtigall singt

Titel: Solange die Nachtigall singt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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Folg du meiner.«
    Sie glitt davon wie ein Gedanke, der Winterwald nahm sie auf, und Matti begann, sich in ihren Spuren vorwärtszukämpfen. Wenn ich das schaffe, sagte er sich, dann … dann wird niemand mehr über die Tätowierung lachen. Ich tue eine Menge für die Liebe. Jemand könnte eine Rockballade über mich schreiben, mit anrührendem Text, und die Mädchen würden reihenweise dahinschmelzen. Aber er wollte ja gar nicht, dass sie schmolzen. Nicht mehr.
    Jascha würde er nicht zum Schmelzen bringen.
    Ihr weißes Haar war aus Eis.
    Sie war nie so schnell Ski gefahren. Sie hatte nicht gewusst, dass es möglich war. Sie sah die Bäume kaum, an denen sie vorüberflog wie auf graufederigen Schwingen. Wie eine Sternschnuppe mit einem Schweif aus weißem Haar.
    Und wenn ein Stern fällt
    in der Nachtwelt,
    heimlich und weiß,
    wünsch dir den Menschen dann,
    den es nicht geben kann …
    Gab es ihn also nicht? Den Menschen, der sie retten konnte? War Jari nicht stark genug gewesen? Seine Spur im Schnee war unstet, sie verlief streckenweise im Zickzack. Jascha wollte rufen, seinen Namen rufen, doch sie brauchte ihren Atem, um die Skier weiter durch den Schnee zu treiben. Als sie den Felsensaum des dunklen Auges durch die Bäume sah, ahnte sie, was geschehen war.
    Der erste Jäger hatte sich am dunklen Auge erhängt.
    Der zweite Jäger war am dunklen Auge auf die Felsen hinuntergesprungen.
    Der dritte Jäger –
    Tränen standen in ihren Augen, als sie die Skier bremste, mit einer einzigen Bewegung abschnallte und an den Rand der Felskante trat. Unten im Eis, das den See bedeckte, klafften zwei Löcher. Sie sah das schwarze Wasser dort heraufblitzen, sie sah ein Paar Schuhe am Ufer stehen, die Socken ordentlich in einen von ihnen gesteckt. Sie rannte den Pfad hinunter, halb rutschend, auf allen vieren schlitternd.
    Sie schrie. Sie schrie seinen Namen. Er klang schrill und durchdringend wie ein Todesschrei.
    Und dann sah sie eine Bewegung im schwarzen Wasser. Draußen, in einem der Löcher. Etwas regte sich dort. Sie zog Jaris Sachen aus, sie brauchte nicht einmal Sekunden. Alles Überflüssige war hinderlich, alles, was sich mit Wasser vollsaugen und gefrieren konnte. Etwas tauchte dort draußen aus dem Wasser auf, nur für Sekunden: ein Arm, ein Kopf mit nassem, zerzaustem Haar wie Vogelgefieder.
    Sie schrie seinen Namen ein zweites Mal.
    Die Kälte des Eises schoss durch ihre Fußsohlen wie Messerstiche, sie stellte sich vor, sie wöge nicht mehr als eine Nachtigall, während sie darüberlief. Schließlich legte sie sich bäuchlings aufs Eis, nackt, um an das Loch heranzurobben. Einen Moment lang fürchtete sie, ihre Haut werde festfrieren. Aber ihr Hass und ihre Liebe waren eine Flamme, die ihren Körper wärmte. Sie hatte nie mit solcher Macht gehasst und geliebt. Sie liebte den Jäger, der kein Jäger mehr war. Sie hasste Joana. Sie hasste Jolanda.
    Jolanda, dachte sie, Jolanda war immer zu kalt, ihre Stimme, ihr Blick … Und Joana war immer zu hitzig, zu heiß, ihr Spott glühend. Und ich, die Jüngste … Wer bin ich?
    Wer bin ich?
    Bin ich das Mädchen des dritten Jägers?
    Sie streckte die Arme aus und rief ihn ein letztes Mal.
    Jari. Jari.
    Jari.
    Er begriff erst beim dritten Mal, dass es Jascha war, die ihn rief. Er fühlte, wie ihre Hand die seine fasste und daran zog. Ich komme, dachte er, ich komme ja. Gleich, gleich bin ich bei dir. Wir werden den Wald auf unsere eigene Art verlassen. Aus dem Gefängnis der Schönheit fliehen.
    Er hielt die Augen geschlossen, noch wagte er nicht, sie zu öffnen, noch war er nicht ganz auf der anderen Seite der Welt angekommen. Er fühlte, wie sie ihn in ihre Arme nahm. Aber sie umarmte ihn nicht einfach, sie schleifte ihn mit sich, da war eine Dringlichkeit in der Art, wie sie an ihm zerrte, die ihn verwunderte. Hatten sie nicht alle Zeit, die es geben konnte, jetzt, hier, unter dem Eis? Jenseits der Realität?
    Er hörte das Eis brechen, und auch das verwunderte ihn.
    Und dann lag er im Schnee.
    »Jari! Wir haben es geschafft!«, flüsterte Jascha neben ihm. »Wir sind am Ufer! Verdammt, ich war so bereit, zu sterben!«
    Er spürte, wie sie ihm die nassen Kleider vom Leib riss.
    »Hilf mir!«, rief sie und schüttelte ihn. »Es nützt ja nichts, jemanden aus dem Wasser zu ziehen, der hinterher an Land erfriert! Los! Du musst dich bewegen! Jari! Bewegen! Steh auf! Komm hoch! Auf die Beine!«
    Und dann schlug sie ihn ins Gesicht. Der Schmerz schoss durch seinen

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