Solange die Nachtigall singt
durchzuprobieren. Falls es ein System der Schubladen und Türen gab, hatte er keine Zeit, darüber nachzudenken.
Der vorletzte Schlüssel war der richtige.
»Ich komme«, flüsterte Matti und öffnete die Tür. »Ich komme ja. Wer bist du?«
Als er den Raum betrat, erschrak er. Es war nicht eines, es waren drei Kinder, die ihm gegenüberstanden, an der hinteren Wand. Und sie hatten keine Augen.
Aber nein, es waren keine Kinder. Es waren Schneiderpuppen wie die im Kaminzimmer. Nur kleiner. Natürlich, Jascha hatte ihm ihre Geschichte erzählt. Dies mussten die Puppen sein, die sie zum Nähen benutzt hatten, als sie hergekommen waren – damals, mit acht Jahren. Der alte Mann, von dem Jascha berichtet hatte, musste ihnen dabei geholfen haben, sie anzufertigen. Sie besaßen sogar Arme und Beine, als wären sie viel mehr als bloße Schneiderpuppen, als wären sie lebensgroße Spielgefährten.
Matti fand noch mehr Schneiderpuppen, und sie trugen die schönsten Kleider, die er sich vorstellen konnte. Doch er sehnte sich nach der Massenware, die seine Mädchen ab und zu bei ihm vergessen hatten: T-Shirts mit in Taiwan aufgedruckten Glitzergoldsprüchen, enge Jeans mit falschen Strass-Steinen.
Das Kind weinte noch immer. Zur Linken gab es eine zweite Tür, doch sie war abgeschlossen. Das Weinen kam von der anderen Seite. Auch dort fand Matti eine Tür, offenbar gab es Zwischentüren in der ganzen langen Reihe der Zimmer. Und diese Tür stand einen Spaltbreit offen. Matti schluckte und stieß sie ganz auf.
Er stand in einem kleinen, einfachen Schlafzimmer. Auf einem Stuhl am Fenster saß das Kind und auf seinem Schoß ein Fuchs.
Nein, es war kein Kind.
Zuerst dachte er, es wäre Jari.
Aber es war Jascha. Sie trug Jaris Kleider.
Matti wusste natürlich nicht zweifelsfrei, ob es wirklich Jascha war, er war keiner der anderen je nahegekommen.
Sie sah auf, als sie seine Schritte hörte. »Matti«, sagte sie, zwischen Tränen, und da war er sicher, dass es Jascha war, denn weder Joana noch Jolanda wussten, wer er war oder dass er überhaupt existierte.
»Matti, hast du den Schlüssel gefunden?«
Er nickte. Er brauchte die Klinke der nächsten Zwischentür nicht herunterzudrücken, um zu wissen, dass sie genauso verschlossen war wie die Tür dieses Zimmers zum Flur. Sie hatten Jascha eingesperrt, sie hatten ihre Welt auf zwei Räume reduziert, ein Näh- und ein Schlafzimmer. Vielleicht brauchte man nicht mehr zum Leben, wenn man ausschließlich für die Schönheit lebte. Aber Jascha, dachte er, lebt nicht ausschließlich für die Schönheit. Nicht mehr.
Sie wischte die Tränen aus ihrem Gesicht.
»Du hörst dich an wie ein Kind, wenn du weinst«, sagte Matti.
»Ja?«
»Ja. Vielleicht ist es das Kind, das du damals warst.«
Sie nickte und wischte sich mit dem Ärmel über die Nase, auch das eine kindliche Geste.
»Matti, ich habe ihn gesehen«, sagte sie. »Durchs Fenster. Ich wollte rufen, aber ich kann die Fenster nicht öffnen, sie haben irgendetwas damit angestellt … Er ist frei, Matti! Er hat mit ihnen gesprochen und ist in den Wald gegangen. Ich weiß nicht, was sie zu ihm gesagt haben. Er konnte sich kaum auf den Beinen halten … Matti, wir müssen ihm nach! Joana ist fortgeritten und Jolanda auf den Skiern weggefahren, als hätten sie etwas Bestimmtes erledigt, und nun wäre alles gut und sie brauchten sich um nichts mehr zu kümmern.« Sie war aufgesprungen, hatte den schläfrigen Fuchs abgeschüttelt und Matti an den Schultern gepackt. Auf einmal hatte sie es eilig. »Wir müssen da raus, Matti! Wir müssen …«
»Ja«, sagte er, mühsam den aufflackernden Schmerz der Wunde unterdrückend. »Ja. Hör auf, mich zu schütteln, und komm.«
Sie lief voraus, die Treppen hinunter, rasch wie der Winterwind. Als Matti die Vordertür hinter sich schloss, stand sie vor ihm und ließ zwei Paar Skier in den Schnee fallen. Es waren altmodische hölzerne Langlaufskier, die auch eher ins Museum gehörten, wie das Grammofon. Aber sie waren schön. Natürlich.
»Kannst du Ski fahren, Matti?«
Er nickte. Er hatte einmal einen Langlaufkurs belegt, zusammen mit einem der Mädchen, die er kurz und ernsthaft geliebt hatte. Es war eine sehr romantische Woche gewesen … Er befestigte die Lederschnallen der Skier an seinen Stiefeln.
»Ich werde nicht sehr schnell sein, fürchte ich«, sagte er und zeigte mit einem entschuldigenden Lächeln auf seine Brust.
Jascha nickte. »Ich fahre voraus, ich folge Jaris Spur.
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