Solange die Nachtigall singt
hatte geschlafen.
Das dritte kleine Mädchen hatte wach gelegen.
Es hatte nicht schlafen können, es hatte in die Dunkelheit gelauscht und sich gewünscht, dass er nach Hause kam, unerwartet. Das dritte kleine Mädchen war das jüngste, und es liebte ihn am meisten. Es sehnte sich danach, dass er sich über sie beugte, die drei Schlafenden in dem großen Bett, dass er die Worte flüsterte, die er immer flüsterte: »Meine drei, meine Schönen, meine Nachtigallen. Wozu habt ihr eigene Betten, wenn ihr doch immer hier in meinem schlaft? Und wo soll ich nun schlafen, wo ich da bin? In einem kleinen Kinderbett?« Er lachte, wenn er das sagte. Sein Lachen klang immer besorgt.
Es war sein Beruf, sich Sorgen zu machen. Es war sein Beruf, fort zu sein. Da waren die Kindermädchen, die Amas, die Nannys, sie waren alle nett, und sie kümmerten sich. In jedem Haus, in jeder Stadt eine andere. Sie standen vor den weißen, kahlen Wänden der weißen, kahlen Häuser und warteten, wenn die drei kleinen Mädchen aus der Schule kamen, wenn sie aus dem Auto mit den getönten Scheiben stiegen.
Aber die Amas, die Nannys, die Kindermädchen waren nie lange genug da, um sie wirklich kennenzulernen. Genau wie die Chauffeure, die Sicherheitsmänner, die Pförtner, die Lehrer. Der einzige erwachsene Mensch, den sie kannten, war er. Er war das Zentrum ihres Seins. Er war so groß und so stark, und er roch so gut, nach Rasierseife und Tabak und Karamellbonbons.
Wenn er nur käme, hatte das dritte kleine Mädchen in jener Nacht gedacht, wenn er nur jetzt zur Tür hereinkäme, unerwartet, und ein paar Tage bei uns bliebe! Oder am besten für immer.
Seit sie wieder in Deutschland waren, sahen sie ihn noch seltener als zuvor. Vor zwei Jahren war es zu gefährlich geworden dort, und man hatte ihn gezwungen, die Mädchen zurückzubringen. Obwohl er dortbleiben musste.
Das erste kleine Mädchen hatte geschlafen.
Das zweite kleine Mädchen hatte geschlafen.
Das dritte kleine Mädchen hatte wach gelegen.
Es hatte gehört, wie die Haustür sich öffnete. Wie Schritte die Treppe hinaufkamen, wie die Tür sich öffnete. Doch als sich jemand über sie gebeugt hatte, da war nicht er es gewesen, sondern ein Fremder.
Und dann waren die anderen erwacht, und da waren noch zwei Männer gewesen und Klebeband und ein Auto, und später, viel später, ein kalter Raum irgendwo in einem Keller. Wie viele Tage waren seit jener Nacht vergangen? Wie viele Wochen?
Das dritte kleine Mädchen lag wach und hatte die Zeit verloren. Die anderen schliefen.
Als er erwachte, lag Jascha neben ihm, die Augen geschlossen. Er setzte sich vorsichtig auf und betrachtete ihr schlafendes Gesicht. Wovon träumte sie? Der feine Strickstoff ihres Pullovers fiel in suggestiven Falten um ihren schlafenden Körper und schien mehr zu entblößen, als er verbarg. Die Wolle schimmerte ockergelb im letzten Licht. Die Sonne war weitergerückt. Bald kämen die Nebel.
Aber dieser Pullover – täuschte er sich, oder hatte sie ihn zuvor noch nicht angehabt? Sie schien besessen davon, sich umzuziehen, als müsste sie an einem Tag die Kleidung eines ganzen Katalogs durch den Wald führen. Seinetwegen wäre die Kleidung – jede Art von Kleidung – nicht nötig gewesen.
Er schob ganz langsam den Saum des Pullovers hoch. Sie trug nichts darunter. Er legte die Hand auf die nackte Haut an ihrem Bauch, ließ sie nach oben wandern, langsam, mit klopfendem Herzen, weiter und weiter … Und dann setzte sie sich abrupt auf, und er zog die Hand weg, schuldbewusst.
»Jari«, sagte sie. »Da bist du.«
»Da bin ich«, sagte er. »Aber ich war es nicht, der verschwunden ist. Das warst du.«
»Wir haben uns verloren …«, murmelte sie. »Du bist so schnell gerannt, du hast nicht gewartet …«
»Und dennoch«, sagte er mit einem Lächeln, »warst du vor mir am See. Ehe du ein zweites Mal verschwunden bist.«
»Am See?«
»Natürlich. Wir haben gebadet. Du schläfst ja noch.«
Sie nickte. »Ja. Ja, ich … erinnere mich jetzt. Wir haben gebadet. Natürlich.«
»Warum bist du wieder weggelaufen? Ehe ich aus dem Wasser klettern konnte?«
»Bin ich das?«
Er legte seine Hände auf ihre Schultern und drehte ihr Gesicht zu sich.
»Jascha«, sagte er ernst, »was stimmt nicht mit dir? Du vergisst … Dinge. Neulich wusstest du nicht mehr, was du im Dorf zu mir gesagt hattest, über die windstille Sturmhöhe. Und du hast vergessen, dass du alle drei Instrumente im Kaminzimmer spielen
Weitere Kostenlose Bücher