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Solange die Nachtigall singt

Solange die Nachtigall singt

Titel: Solange die Nachtigall singt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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nahm eine der dünnen Scheiben zwischen Daumen und Zeigefinger und steckte sie Jari in den Mund. Einen Moment lang hielt er ihre Finger mit den Lippen fest, ehe er sie freigab, und sie lachte. Dann wies sie mit dem Kopf zu den übrigen Pilzscheiben, und er verstand, er nahm eine von ihnen und steckte sie in Jaschas Mund. Ihr Mund war warm.
    Er legte seine Hand zurück in ihre und sah sie an. Sie kauten langsam, gleichzeitig, es war ein Ritual. Der Pilz schmeckte süßlich, ein wenig würzig, nicht unangenehm. Jascha hielt ihm die zweite Scheibe hin, und er fragte sich, ob es eine gute Idee war, weiterzumachen, aber wenn er den Mund öffnete, würde er ihre Finger wieder spüren … Sie lächelte noch immer, öffnete lächelnd den eigenen Mund, und die Scheiben des Pilzes verschwanden, eine nach der anderen, bis der steinerne Tisch zwischen ihnen wieder leer und grau war. Einen Moment knieten sie einfach so im Gras, ohne sich zu rühren.
    Jari fühlte, wie die Schwerkraft langsam nachließ. Jascha zog ihn mit sich hoch, seine Füße berührten den Boden zwar noch, aber er begann bereits zu schweben. Auch sein Kopf war leicht, alle Sorgen versickerten in der Erde der Lichtung. Das Kreuz am Rand des dunklen Auges, das weinende Kind in der Nacht, Jaschas Unfähigkeit, sich an gewisse Dinge zu erinnern – das alles verließ ihn, wehte davon wie das gelbe Laub der Birken um die Lichtung. Das Gelb war atemberaubend. Nie hatte er ein so gelbes Gelb gesehen. Nie ein so grünes Grün wie das des Grases unter ihm.
    Jascha lachte ihr Silberglockenlachen und fasste ihn an den Händen, und sie wirbelten auf der Lichtung herum. Es war jetzt unmöglich, die Füße auf der Erde zu behalten. Ein Windhauch blies sie von der Lichtung, zwischen die Birken und Buchen. Hinter der ersten Buche stand Jascha – wann hatte sie ihn losgelassen? Hinter dem Stamm der nächsten Buche stand ebenfalls Jascha, und hinter dem nächsten Stamm stand sie noch einmal. Der Wald war voller wunderschöner schwarzhaariger Mädchen, deren Lachen die Luft füllte. Es klang wie Harfentöne, wie die Melodie einer Oboe, wie die Musik eines Cellos, alles zugleich.
    »Wie kannst du so oft da sein?«, rief Jari. »Welche ist die richtige Jascha?«
    Die hundert Jaschas lachten wieder. »Keine!«, antworteten sie. »Es gibt keine richtige!«
    Er blieb zwischen ihnen stehen und sah zu, wie sie ihre Körper an die Baumstämme schmiegten, es war ein beunruhigend erotischer Anblick, aber traf das nicht auf alles zu, was Jascha tat? Nein, dachte er, dies hier geht weiter. Er hörte die Bäume seufzen, er sah, wie die hundert Jaschas begannen, mit den Stämmen des Waldes zu verschmelzen, eins zu werden mit rauer oder glatter Rinde, und schließlich waren sie fort.
    Jari trat zurück auf die Lichtung, allein. »Wo bist du?«, rief er, die Hände an den Mund gelegt wie ein Sprachrohr. »Jaschaaaa! Komm zurüüück!«
    Da waren Schritte im Unterholz. Jari lauschte, er hörte knackende Äste – aber das, was da durch den Wald brach, war zu groß, zu ungeschickt für Jascha.
    »Runter!«, zischte sie, plötzlich neben ihm, und zog ihn mit sich ins Gebüsch. »Psst!«
    Er sah die Lichtung nur noch undeutlich durch die Äste, das hohe Gras schien zu pulsieren, schien in einem unerklärlichen Rhythmus zu wachsen und wieder zu schrumpfen, und jetzt trat etwas auf die Lichtung.
    »Die Bärin«, flüsterte Jascha neben ihm. »Sie sucht ihre Jungen.«
    Die Bärin sah sich um, stellte sich dann auf die Hinterbeine, eine Drohgebärde, und bleckte die Zähne.
    »Wo sind ihre Jungen?«, wisperte Jari.
    »Alle gestohlen, alle verdorben«, flüsterte Jascha. »Drei hat sie gehabt, drei sind fortgegangen, sind weggeholt worden, sind nicht zurückgekommen. Aber die Bärin sucht noch immer, jedes Jahr im Herbst.«
    Jari hörte die Bärin knurren. Sie schlug mit ihren Pranken in die Luft, eine Schattenboxerin, die nichts erreichen konnte trotz all ihrer Kraft. Endlich ließ sie sich auf alle viere zurückfallen und verschwand wieder im Wald. Jari sah sie davontrotten, von hier oben sah sie winzig aus, nur ein Spielzeugtier zwischen den bunten Baumwipfeln einer Spielzeuglandschaft.
    Von hier oben? Aber ja doch, ja, er kauerte nicht länger im Gebüsch. Er flog, hoch über dem Wald. Und plötzlich sah er, überdeutlich, in den Ästen Vögel sitzen, kleine, unscheinbar graue Singvögel, in jeder Baumkrone einen. Ihr Gesang war wunderschön.
    Nachtigallen.
    Er streckte im Fliegen die Arme nach

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