Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Solange die Nachtigall singt

Solange die Nachtigall singt

Titel: Solange die Nachtigall singt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
Vom Netzwerk:
ihnen aus – und stand wieder auf dem Boden, mitten auf der Lichtung, einen kleinen Vogel in der Hand. Eine der Nachtigallen. Oder die einzige Nachtigall. Doch ihre dunklen Augen waren die von Jascha.
    »Hört doch auf damit!«, bat Jari. »Hört auf, dauernd alles zu ändern! Es ist zu verwirrend …«
    Die Nachtigall sang nicht, sie saß ganz stumm auf seiner Handfläche und sah ihn an. Er drückte sie behutsam an sich, um sie vor dem kalten Oktoberwind zu schützen, er spürte ihren winzigen Herzschlag. Und dann, ganz plötzlich, ohne Vorwarnung, lag sie still. Da war keine Regung mehr in dem kleinen Körper, kein Herzschlag, kein Lied. Ihr Körper war stumm und schlaff. Hatte er sie erstickt, ohne es zu wollen? Entsetzt starrte er den leblosen kleinen Vogel an.
    Jascha nahm ihn ihm aus der Hand und bettete ihn behutsam ins Gras.
    »Aber du … warst du nicht die Nachtigall?«, fragte Jari perplex.
    »Still, still«, flüsterte Jascha und legte einen Finger an seine Lippen.
    Und dann küsste sie ihn.
    Nie hatte er es weniger erwartet.
    Sie öffnete seine Lippen mit ihrer Zunge, tastete sich durch seinen Mund, warm und lebendig, und er hielt Jascha fest und ließ sie nicht los, damit nicht auch dieser Moment ihm entglitt. Er wusste nicht, ob wirklich geschah, was geschah, es war unmöglich, das festzustellen. Aber was geschah, war schön, schöner als alles bisher. Sie schmiegte sich an ihn wie zuvor an den Baumstamm, er spürte ihren Körper, der mit seinem verschmelzen wollte. Er versuchte, den Gürtel seiner Hose mit einer Hand zu lockern, er küsste sie noch immer, seine Hüfte an ihre gepresst … Da hörte er im Wald eine Stimme, oder war es der Laut eines Tieres? Jascha zuckte zusammen.
    »Jemand ruft nach mir«, flüsterte sie. »Hörst du es?«
    Sie löste sich von ihm, sah ihn an – und war fort. Ein kleiner, unscheinbar grauer Singvogel flog über die Lichtung davon. Und Jari stand alleine da, wieder einmal der Betrogene.
    »Warte!«, rief er. »Wo … wohin … Komm doch wieder!«
    Das war der Moment, in dem er sah, dass die Nebel zurückgekehrt waren. Sie kreisten ihn bereits ein. Er fand im Gras seinen Rucksack und ging langsam in die Richtung, in der die Nachtigall verschwunden war. Die Nebel verfolgten ihn, vereinigten sich zur gleichen milchigen Suppe wie am Tag zuvor, doch Jari fühlte sich noch immer zu leicht, um sich zu fürchten. Vielleicht war er selbst nur ein Teil der Nebel? Streckenweise schwebte er noch immer.
    Und dann, plötzlich, mitten im Nebel, als er die Hand vor Augen kaum noch sah, drang eine Melodie aus seinem Rucksack. Er kannte die Töne, doch es dauerte, bis er darauf kam, was es war: das Handy. Er hatte völlig vergessen, dass es existierte. Er war sich sicher, dass er es ausgeschaltet hatte, um den Akku zu schonen. Hatte er es selbst wieder angeschaltet, ohne es zu merken? Und wann? Er durchwühlte den Rucksack mit unkoordinierten Bewegungen, zog es hervor und hielt es ans Ohr.
    »Jari? Bist du da?«
    »Nein«, sagte er.
    Die Stimme am anderen Ende der Leitung löste seltsame Bilder in ihm aus. Der Nebel begann, sich zu Spitzendeckchen zu verklöppeln. Irgendwo in einer Astgabel glaubte er, ein Gesangbuch zu sehen, und es duftete nach frischen Keksen.
    »Jari, ich versuche seit einer Weile, dich zu erreichen. Geht es dir gut? Wo bist du? Bist du schon weit gewandert?« Die Stimme gehörte seiner Mutter.
    »Ja«, antwortete er. »Sehr weit. Gut. Danke.«
    »Deine Stimme ist seltsam.«
    »Das … muss an der Verbindung liegen.« Sie hatte recht. Seine Worte kamen nur schleppend.
    »Papa möchte auch mit dir reden. Warte.«
    »Cizek?« Sein Vater hatte angefangen, ihn beim Nachnamen zu nennen, als die Jungen in der Schule ebenfalls damit angefangen hatten. Der Nachname gehörte ihnen beiden, Cizek senior, Cizek junior. Der Tischler hatte einen Tischler gezeugt, die Nachfolge war gesichert. Das war wichtig.
    »Cizek, hör zu, deine Mutter macht sich Sorgen. Warum meldest du dich nicht?«
    »Ich … ich hatte das Handy ausgeschaltet, um den Akku aufzusparen … für … Notfälle.«
    »Du hättest anrufen können. Wenigstens kurz. Um zu sagen, dass du gut angekommen bist mit der Bahn. Dass alles geklappt hat.«
    »Das Netz hier ist … wirklich … schlecht.«
    »Du bist betrunken.«
    »Nein!« War er betrunken? Er war sich nicht sicher. Wohin war er gegangen, woher kam er in diesem Moment? In seinem Kopf schwebten Bruchstücke von Bildern – das dunkle Wasser

Weitere Kostenlose Bücher