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Solange die Nachtigall singt

Solange die Nachtigall singt

Titel: Solange die Nachtigall singt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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kannst.«
    »Wie bitte?«
    »Du hast zu mir gesagt, das könntest du nicht, aber ich habe sie dich alle spielen hören.«
    »Das habe ich gesagt? Dass ich es nicht kann?«
    »Siehst du? Du hast schon wieder etwas vergessen. Jascha, was ist los? Hast du irgendeine Art von … Krankheit?«
    Sie schüttelte seine Hände ab. »Wenn man im Wald lebt und jeden Tag an so viele Dinge denken muss, kann man schon mal etwas vergessen.«
    Er sah den See in ihren Augen, seine dunkle Tiefe. Am Grunde dieses Sees, am Grunde dieser Augen lag ein Geheimnis. Und ein neues, beunruhigendes Gefühl stieg in ihm auf. Bisher hatte er alles Mögliche gespürt, wenn er an Jascha gedacht hatte, Verlangen, Ärger, Unverständnis, sogar Angst – aber jetzt spürte er zum ersten Mal etwas wie Sorge.
    »Erinnerst du dich, was du zu mir gesagt hast, als ich auf den Bärenfelsen klettern wollte?«
    Er sah sie zögern.
    »Du wolltest …? Niemand kann auf den Bärenfelsen klettern.«
    »Doch. Ich habe es getan.«
    Sie drehte eine schwarze Haarsträhne um ihren Finger und überlegte. »Ja«, sagte sie schließlich. »Ja. Jetzt erinnere ich mich. Jari, du musst hungrig sein. Genau wie ich. In deinem Rucksack sind die Brote, die ich für uns gemacht habe, ehe wir aufbrachen.«
    Sie aßen schweigend. Jari hatte natürlich nie etwas darüber gesagt, dass er auf den Bärenfelsen klettern wollte, und deshalb hatte sie auch nie etwas darauf erwidert. Sie war ihm in die Falle gegangen, eine Falle aus Worten. Er musste mehr Fallen stellen, Fußeisen aus Sätzen legen, Käfige aus Behauptungen bauen. Er würde sie fangen, früher oder später würde sie in die letzte, die entscheidende Falle tappen, und dann wüsste er endlich, was in diesem Wald zwischen den Zeilen geschah, in den Schatten, hinter den Nebeln. Dann wüsste er, wer sie war.
    Nachdem sie alle Brote gegessen hatten, ging sie voran durch die Bäume.
    »Jascha«, sagte Jari nach einer Weile. »Am See. Dem dunklen Auge. Da ist ein Kreuz, im Felsen. Weißt du, was es bedeutet?«
    Sie zuckte die Schultern. »Ein Kreuz bedeutet immer ein Grab.«
    »Und wer liegt dort begraben?«
    »Ein unglücklicher Mensch«, antwortete sie und teilte die tief hängenden Zweige einer Blutbuche, die eine weitere Lichtung frei gaben. »Schau!«, rief sie ganz plötzlich. »Dort!«
    »Warte«, sagte Jari. »Ein unglücklicher Mensch? Kanntest du ihn denn?«
    Sie schüttelte den Kopf. Dann kniete sie sich ins herbstliche Gras der Lichtung, und nun sah es auch Jari: Vor ihnen im Gelbgras stand ein roter Fliegenpilz mit weißen Tupfen. Er war nicht allein; die ganze ockergoldene Wiese war gesprenkelt mit roten Pilzköpfen. Jascha kniete vor dem größten von ihnen nieder. Sie zog ein Messer aus der Tasche und durchtrennte den weißen, faserigen Stamm des Pilzes. Dann ging sie hinüber zu einem kleinen Felsen.
    »Komm, mein Zeisig!«
    Was hatte sie vor? Er folgte ihr, und sie benutzte den Felsen als Tisch, um den Fliegenpilz in feine Scheiben zu schneiden. Das Messer zerteilte das Fleisch des Pilzes wie Butter, die Klinge musste gut geschliffen sein. Die Scheiben des Pilzes waren innen von einem seltsam glasigen, elfenbeinernen Weiß.
    Jascha kniete sich an das schmale Ende des Felsens und sah Jari über ihn hinweg an. Ihre Augen fingen ihn ein und drückten ihn ebenfalls auf die Knie. Vielleicht war der Felsen weniger ein Tisch als ein Altar, der Pilz Opfer und Hostie zugleich. Jari dachte an die vielen Sonntage, die er als Junge kniend in der Kirche verbracht hatte, als Ministrant; in der ersten Kirchenbank seine stolze Mutter. Sein Gefieder war stets zerzaust gewesen, nie zu bändigen, und er hatte sich weit weggewünscht von den kalten, harten Stufen, auf die Gott angeblich von irgendwoher hinabsah. Aber der kleine Jari war sich immer sicher gewesen, dass Gott in der Handtasche seiner Mutter wohnte und längst zwischen den Spitzentaschentüchern erstickt war.
    »Woran denkst du?«, fragte Jascha. Ihre Unterarme lagen auf dem Stein, die Handflächen hatte sie nach oben gekehrt, es wirkte wie eine fremde Art des Gebets. Jari legte seine Hände in ihre. Zwischen ihren Armen, auf dem Altar, leuchteten die schmalen roten Streifen.
    »An früher«, sagte Jari. »An die Kirche. Meine Mutter wollte immer, dass ich hingehe. Wie war deine Mutter?«
    »Ich weiß nicht. Sie ist früh gestorben. Es war unsere Schuld. Keine Kirche für mich.«
    »Und dein Vater?«
    Jascha antwortete nicht. Sie löste ihre rechte Hand aus seiner,

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