Solange die Nachtigall singt
tauchte erst beim Ufer wieder auf, zog sich aus dem Wasser auf den Felsen und schüttelte ihr Haar wie ein nasser Hund. Tausend Tropfen stoben in alle Richtungen davon wie winzige Diamanten. Jari sah noch einmal am Felsen empor, dorthin, wo der einsame Ahorn seinen Ast über das schwarze Wasser reckte. Da war etwas – eine Unebenheit im Felsen, unterhalb der Spalte, in der der Ahorn wuchs. Jemand hatte etwas hineingemeißelt.
»Jari! Jari, komm! Mir ist kalt!«
Er kniff die Augen zusammen und versuchte zu erkennen, was in den Felsen gemeißelt war. Ein Buchstabe? Eine Zahl? Nein. Ein Kreuz. Ein Kreuz mit verschnörkelten Enden, wie die geschmiedeten Kreuze auf alten Friedhöfen. Die Kälte des Sees kehrte mit einem Schlag in seinen Körper zurück. Er drehte sich um und schwamm zu Jascha, so schnell er konnte, er musste sich bewegen, um nicht zu erfrieren.
Das dunkle Auge des Sees war ein Grab.
Er zog sich mit zitternden Händen auf den Felsen, ohne Jascha anzusehen. Einen Moment lang saß er einfach so da, nackt, nass, zusammengekauert, und starrte zum gegenüberliegenden Ufer hinüber, wo er das Kreuz auf diese Entfernung kaum noch erkannte.
»Wer ist dort begraben?«, fragte er laut. Seine Worte prallten an den Felsen ab, zerbrachen und fielen ins Wasser hinab. Er erhielt keine Antwort. »Jascha?«
Jascha, Jascha, Jascha, flüsterten die Felsen.
Der See lag still und dunkel wie zuvor, die roten Blätterrubine leuchteten antwortlos.
Jari sah sich um. Jaschas Kleider lagen nicht mehr auf dem Felsen.
Jascha war fort.
Natürlich war alles nicht so schlimm. Menschen starben. Gräber wurden geschaufelt oder nicht geschaufelt. Das Leben war endlich. Vielleicht existierte das Kreuz im Felsen schon seit Jahrhunderten. Und Jascha – Jascha verschwand, weil es zu ihrer Natur gehörte, ab und an zu verschwinden. Sie spielte noch immer mit ihm.
Das dunkle Auge des Sees beobachtete stumm, wie Jari oben an seinem Ufer entlangging, zwischen den Birkenwimpern hindurch, ein winziger Mensch. Jari fragte sich, was es sah. Nicht gerade einen Helden. Einen Jungen, der sich nervös durch das nasse Haar fuhr wie durch feuchtes Gefieder. Zerkratzte Turnschuhe. Einen unförmigen grauen Wollpullover, von einer Mutter gestrickt: Nimm den dicken Pullover mit, mein Junge … und komm mir gesund zurück! Ade.
Ade, Jari.
Auf der anderen Seite, am Fuß des einsamen Ahorns, kniete er sich hin und sah über die Felskante. Die eingemeißelten Linien des Kreuzes waren mit Moos bewachsen. Weshalb hatte jemand gerade diesen Platz gewählt, um ein Kreuz in einen Felsen zu meißeln? Der Künstler musste so hier gekniet haben wie Jari, er hatte die Linien womöglich im Liegen angebracht, um nicht hinunterzustürzen. Wenn man von hier aus stürzt, dachte er, fällt man nicht ins Wasser. Man schlägt unten auf den Felsen auf, dort, am schmalen Ufer.
Er schüttelte sich und robbte zurück, fort von der Tiefe, die an ihm zog.
»Und wenn es Jaschas Vater ist, der hier begraben liegt?«, murmelte er. »Wann ist er gestorben? Woran?«
Er stand auf, klopfte sich die Hose ab und wanderte in den Wald hinein, in die ungefähre Richtung, aus der er glaubte, gekommen zu sein. Aber solange er auch ging, er fand hinter dem Wald nichts anderes als noch mehr Wald. Die Stunden vergingen, der Tag zog vorüber. Die ungefähre Richtung? Ha. Er lachte über sich selbst, bitter. Hatte er wirklich gedacht, er würde sich diesmal zurechtfinden? Die Luft war noch immer golden, und doch war das Gold jetzt wie die Nebel: Es verwirrte ihn, hielt ihn zum Narren, gaukelte ihm Pfade vor, wo keine waren. Das weiche Moos auf den Steinen und Wurzeln schluckte seine Schritte, schluckte seine Spur. Der hohe blaue Himmel führte nirgendwohin, die Äste der Bäume zerschnitten das Blau zu einem Labyrinth.
Jari war unsicher auf den Beinen, zitterig wie ein alter Mann, und es dauerte, bis er begriff, warum: Er hatte seit dem Morgen nichts gegessen. Jascha hatte gesagt, sie wollte etwas zu essen aus der Küche holen, aber dann waren sie zum See gerannt, er sah sie noch dort am Ufer stehen, nackt, und er hatte jeden Gedanken ans Essen vergessen.
Bei der nächsten Lichtung, die er erreichte, ließ er sich ins Gras fallen und blieb einfach liegen, die Hände hinter dem Kopf verschränkt. Über ihm flossen die Wolken zu einem Kreuz ineinander. Er schloss die Augen. Er schlief.
Sonnenocker
Das erste kleine Mädchen hatte geschlafen in jener Nacht.
Das zweite kleine Mädchen
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