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Solange die Nachtigall singt

Solange die Nachtigall singt

Titel: Solange die Nachtigall singt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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ihre Haare, ihre Haare waren doch echt stark, oder? Was ist überhaupt mit dir und den Mädchen? Hast du gerade eines?«
    »Wie? Hier? Bei mir?«, Jari hatte gelacht und seine Hosentaschen nach außen gekrempelt. »Nein. Aber ich finde schon noch eine. Vielleicht … weiß ich nicht so genau, was ich will.«
    Und jetzt?, dachte Jari. Weiß ich jetzt, was ich will?
    Er zog sich leise an, suchte in seinem Rucksack nach der Taschenlampe und fand sie nicht. Stattdessen fand er eine Kerze und Streichhölzer. Besser als nichts.
    So trat er hinaus in die Dunkelheit des Flurs, die nur seine Kerze erhellte. Aber auch hier gab es Spiegel zwischen den Türen, und das Licht der Kerze wurde zum Licht von hundert Kerzen und lockte hundert Schatten aus ihren Ecken. Die Stufen der Treppe buckelten wie ungehorsame Pferde. Mit jeder Stufe, die Jari besiegte, wurde das Weinen ein wenig deutlicher.
    »Ich komme«, flüsterte er. »Ich weiß nicht, wer du bist, was du bist, weshalb du hier bist, aber ich komme …«
    Auch im Flur des ersten Stockwerks gab es Spiegel, er sah sich selbst darin, sein Gesicht grotesk verzerrt vom flackernden Licht. Ein Dämon, ein Geist. Nie hatten seine Augen so dunkel gewirkt, bodenlos wie Jaschas Augen. Einen Moment blieb er stehen und starrte sein Spiegelbild an, und es war, als blickte er in eine Zukunft, in der er ein anderer sein würde, den er noch nicht kannte. Und in den Ecken, wo die Spiegel sich gegenseitig spiegelten, gab es wieder mehrere Jaris, beunruhigend viele … Er trat vor die Tür, hinter der das Kind weinte. Legte die Hand auf die Klinke. Die Tür war verschlossen. Natürlich. Was hatte er erwartet?
    Der Apothekerschrank mit den vielen Schubladen war das einzige Möbelstück im Flur. Er zog eine der vielen winzigen Schubladen auf. Darin lag ein Schlüssel. Jari lächelte. Zwölf Türen gab es in diesem Korridor, zwölf Schubladen hatte der Apothekerschrank. Es war beinahe zu einfach. Er zählte die richtige ab, riet, von welcher Seite er zählen musste, und versuchte sein Glück.
    Der Schlüssel, den er aus der Schublade nahm, passte. Er schob ihn behutsam ins Schloss, beinahe lautlos. Drückte die Klinke herunter, schob die Tür auf, Millimeter für Millimeter. Das Weinen verstummte. Jari hob die Kerze, betrat das Zimmer hinter der Tür – und ließ die Kerze fallen. Sie erlosch. Er stand im Dunkeln und versuchte zu begreifen, was er gesehen hatte.
    Das Kind stand an der gegenüberliegenden Wand. Es stand ganz gerade und schien ihm entgegenzublicken, doch Jari sah keine Augen in seinem Gesicht. Das Kind … das Kind war nicht allein. Neben ihm standen zwei weitere Kinder. Jari konnte nicht sagen, welches von ihnen das Kind war, das geweint hatte. Die drei Kinder waren alle drei gleich groß, hatten die gleiche Statur, die gleiche aufrechte Haltung. Sie waren in glänzenden Seidenstoff gekleidet, und in der einen Sekunde des Lichts hatte er die Muster des Waldes darauf erkannt; Blätter und Ranken, Gräser und Rinde.
    Die Kinder standen ganz still. Er hörte sie nicht einmal atmen.
    Die Tür hinter ihm fiel leise zu.
    Das blasse Mondlicht drang durch die Ritzen zwischen den Vorhängen in den Raum, und langsam begannen Jaris Augen sich an die Dunkelheit zu gewöhnen. Da waren noch mehr Personen im Zimmer. Zu seiner Linken standen drei weitere Gestalten, größer als die Kinder. Drei junge Mädchen. Und zu seiner Rechten eine dritte Gruppe. Drei Frauen. Sie waren an den Wänden aufgereiht wie in einem seltsamen Tanz, und sie alle trugen die Schönheit des Waldes, auch wenn er ihre Kleidung nur verschwommen sah. Nur die mittlere Frau war nackt. Ein Streifen Mondlicht fiel schräg auf ihre bloßen Brüste, ihren Bauch, ihre Oberschenkel. Sie trug nichts als einen breiten gewebten Schal und eine Pelzmütze, die ihr Haar verbarg.
    »Jascha?«, flüsterte er. »Bist du das? Wo bin ich? Wer seid ihr?«
    Es blieb still im Raum, atemlos still, und da sah er, dass auch die nackte Frau keine Augen hatte. Keines der Gesichter hatte Augen, und keines gehörte Jascha. Sie alle waren blind.
    Mitten im Raum stand ein kleiner Tisch mit einem Stuhl davor. Seitlich am Tisch gab es ein Rad, und auf dem Tisch stand ein klobiges Ding mit Zacken und Zähnchen und einem dunklen, geschwungenen Körper wie ein lauerndes Tier. Jari erinnerte sich, wie furchtlos er durch die Nebel gegangen war, die Wirkung des Fliegenpilzes in Kopf und Beinen. Jetzt stolperte sein Herz über den eigenen Rhythmus vor

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